Menschen in ausweglosen Situationen. Ein Kurzkrimi

Mist. Mein Bruder hatte eine Dummheit begangen und sie hatten ihn dabei erwischt. Nichts Schlimmes, bewahre! Ein Schokoriegel vom Tresen der Tankstelle, danach noch mal schnell das gute teure Benzin nachgeladen und ohne zu bezahlen weggefahren. Dumm nur: die Videokameras. Zwei wunderschöne Porträts meines Herrn Bruders und dazu gestochen scharf das Nummernschild seines Autos.

Ich liebe meinen Bruder. Naja, nicht sonderlich, aber immerhin ist er mein Bruder und unsere Familie hält zusammen, schon wegen der bösen Nachbarn. Er ist auch kein schlechter Mensch. Seiner Frau ein (einigermaßen) treuer Ehemann, seinen Kindern ein liebenswürdiger Vater, erfolgreich im Beruf und Mitglied im Vorstand der Kirchengemeinde, wo sie für ein neues Dach des Gotteshauses sammeln. „Ich bin ruiniert!“ schrie also mein Bruder und raufte sich die Haare, „Du musst mir helfen!“ Helfen? Also mein Lieber… die Beweise… die Indizien… da musst du durch. „Nein!“ beharrte er, „gib mir ein Alibi! Du bist unbescholten, du kannst behaupten, alles sei nur ein schrecklicher Irrtum, ein Doppelgänger, der sogar sein Auto zum Doppelgänger des meinigen umgerüstet hat! Dir wird man glauben!“

Und so kam es, dass ich auf der Polizeiwache saß, einen grantigen Kommissar ganz in Grün auf der anderen Seite des Schreibtisches, und meine Aussage zusammenstotterte. Doch, doch, ich könne es beschwören: Mein Bruder und ich hätten zur angeblichen Tatzeit Schach gespielt. Der Kommissar schüttelte ungläubig den Kopf. Die Doppelgängergeschichte war auch wirklich zu blöd.

„Sehen Sie“, sagte der Kommissar, „ich verstehe Sie vollkommen. Aber die Beweise sind erdrückend. Wir haben bei Ihrem Bruder den entwendeten Schokoriegel vorgefunden.“ Er kramte in der Schreibtischschublade und legte ihn auf den Tisch, einen billigen Schokoriegel eben. „Das ist kein Schokoriegel“, sagte ich mit halbwegs fester Stimme. „Wie bitte?“ fragte der Kommissar zurück. „Das ist kein Schokoriegel, das ist – eine Fernbedienung.“ „Hm“, machte der Polizist. Er mochte überlegen. Ist der Mann verrückt? Will er mich verarschen? Jahrelange Berufserfahrung hatte ihn gelehrt, dass Insistieren auf das Offensichtliche und nicht zu Bestreitende in vielen Fällen erfolglos war. Er versuchte es anders. „Der Tank des Wagens Ihres Bruders war voll. Die Benzinsorte gibt es nur an dieser einen Tankstelle, dann erst wieder in einer, die 200 Kilometer entfernt liegt. Hätte Ihr Bruder sich dort eingedeckt, wäre der Tank nicht voll. Logisch, oder?“

Ich fand das überhaupt nicht logisch. „Der Wagen meines Bruders fährt ohne Benzin. Ob Sie es glauben oder nicht.“ Er glaubte es nicht. Er wollte meinem Bruder etwas anhängen, das wurde mir plötzlich sonnenklar. Eine Intrige. „Welcher Religionsgemeinschaft gehören Sie an?“ fragte ich ihn. Er stutzte. Antwortete dann aber: „Ich bin aus der Kirche schon vor langer Zeit ausgetreten.“ „Aha!“ trumpfte ich auf. „Daher weht der Wind! Ihnen missfällt das Engagement meines Bruders für die katholische Kirche, dass er sich für ein neues Dach einsetzt und überhaupt. Wahrscheinlich gehören Sie zu denen, die sich am Glockengeläut stören und jetzt versuchen Sie eine billige Retourkutsche! Schämen Sie sich!“

Das liege ihm fern, rechtfertigte sich der Kommissar, er kenne meinen Bruder doch gar nicht. „So, so“, antwortete ich, „Sie kennen ihn also nicht. Natürlich kennen Sie ihn nicht! Sonst könnten Sie hier keine ungeheuerlichen Behauptungen aufstellen! Mein Bruder ist ein rechtschaffener Kerl, da können Sie jeden fragen! Aber ich mache Ihnen ein Angebot. Mein Bruder bezahlt den angeblichen Schokoriegel und die Tankfüllung, er entschuldigt sich sogar beim Besitzer der Tankstelle, sollte er – irgendwann, sagen wir vor 12 Jahren – dort vielleicht irrtümlich mal etwas mitgenommen haben ohne zu bezahlen, ein belegtes Brötchen zum Beispiel, kann doch mal passieren, ist mir schon passiert und Ihnen doch sicherlich auch, oder?“

Der Kommissar überlegte. Ich legte nach: „Wenn Sie jetzt auf die Straße gehen und die Leute fragen, ob man das Leben meines Bruders zerstören dürfe, nur weil er VIELLEICHT einmal vor vielen Jahren ein belegtes Brötchen – oder einen Apfel? Eine Fanta? – ohne zu bezahlen hat mitgehen lassen, was glauben Sie, was Ihnen diese Leute antworten werden? Dass Sie verrückt sein müssen! Ein solcher Mann! Der seine Arbeit immer hervorragend und ehrlich erledigt, der seine Steuern pünktlich zahlt, seine Kinder auf höhere Schulen schickt!“

Der Kommissar antwortete immer noch nicht, aber es arbeitete in ihm. Ich lehnte mich zufrieden zurück. Netter Versuch, dachte ich. Die Welt ist schlecht und der Gerechte wird zur Zielscheibe des Perfiden. Dabei ist doch auch dieser Kommissar nur ein Mensch und wenn er sich jetzt dafür entschuldigt, meinen Bruder zu Unrecht angeklagt zu haben, werde ich ihm verzeihen. Ja, das werde ich tun. Es gibt so etwas wie Ethik und Moral, ich bin so erzogen worden, ich kann nicht anders. Meinem sauberen Bruder, diesem arroganten Arschloch, rate ich aber, sich zukünftig ein wenig klein zu halten. Dann hat sich diese Peinlichkeit hier wenigstens auch für mich gelohnt.

3 Gedanken zu „Menschen in ausweglosen Situationen. Ein Kurzkrimi“

  1. Sie haben doch beim Schreiben nicht etwa an unseren verheerten Dr.Stg.cp.Pinocchio ab und zu Googleberg gedacht, nein? Ah, Gott sein Ding! Wir dachten schon.

    Hat denn Ihr Brüderchen sich schon erkenntlich? Ihnen beim Waldverwalten geholfen? Den tierischen Narrenorden geschenkt? Die Bonusmeilen bei der Transall überschrieben? Die Zusammensetzung seines Haargels verraten?

    Das wüssten wir doch noch gern!

    Liz & Friede (ihrer Angie)

  2. Liebe Leute, ich denke grundsätzlich nicht beim Arbeiten. Jedenfalls nicht bewusst. Sollte ich also irgendjemand beleidigt haben, gibts ein paar Haue für mein Unbewusstes und gut is. Guttendings? Nie gehört.

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