Den folgenden Text kann man auch →hier lesen, aber das ist natürlich Werbeumfeld und deshalb gehört er auch auf wtd, wo ja nicht geworben wird, das heißt anders geworben. Man kann sich auch das Werbeumfeld einmal anschauen, ist ja nix Schlimmes. Ein Autor wirbt für sein Buch, andere werben für Atomkraft, Windmühlenflügel begegnen diesen wie jenem, ach, so ist das nun einmal.
Wie „Pixity“ entstand
Ich mag das Internet. Schließlich kenne ich mich ganz gut aus und verdiene ab und zu ein bisschen Geld mit netztauglichen Multimedia-Anwendungen. Sogar einen Chat habe ich schon programmiert, er gehörte zu einem „Lerntagebuch“ und funktionierte wie das meiste hinter den Kulissen dieser Wunderwelt über das Füttern und Auslesen von Datenbanken. Selbst in Chats war ich nie, den eigenen zu Testzwecken einmal ausgenommen, wo man misstrauischen Schülerinnen und Schülern ein „Hallo, ich hab das hier gemacht“ hinwirft und selbstverständlich keine Antwort bekommt. Aber mal ehrlich, was soll einer über 50 auch in Chats? Einsame Damen suchen? Sich mit Gleichgesinnten über Fußball, Autos oder, meistens wohl, Sex unterhalten? Tausendfach die Frage „Was machst du gerade?“ mit „Chatten“ beantworten? Nein, brauchte ich nicht.
Dann schrieb ich an einem Krimi. Eine Gruppe von Kindern rächt sich an Erwachsenen für alles, was sie Kindern und der Welt überhaupt antun, sie fackeln Billigklamottenläden ab, verpfeifen einen Hühnerfarmer, der seine Tiere mit Antibiotika aufpäppelt, und weil es mir gerade so einfiel, erfand ich ein Mädchen, das seinem Vater eins auswischen will, weil es ihn dabei erwischt hat, wie er sich als 15jährige Susi in einem Chat Teenagern näherte. So etwas gibt es, das wusste ich schon. Im Internet gibt es alles, Geschäftsmacher, Psychopathen, Idioten und Idealisten, gute Informationen und schlechte Informationen, alles eben, auch Fakes, Menschen, die sich mit falscher Identität in die „sozialen Netzwerke“ begeben. Das ist leicht, viel leichter, als sich vor eine Schule zu stellen, um junge Mädchen oder Jungs anzusprechen und ihnen einreden zu wollen, man sei eigentlich ein Mädchen, knapp 15 und interessiere sich für Selbstbefriedigung. Funktioniert im wirklichen Leben selten, im Internet schon.
Aber wie es nun einmal so ist, man möchte nichts einfach so dahinschreiben, von dem man zwar gelegentlich gehört, das man aber selbst noch nicht erlebt hat. Sollte ich zudem ein wenig freie Zeit gehabt haben? Kaum vorzustellen, aber war wohl so. Ich suchte mir einen Chat, meldete mich als fünfzehnjähriges Mädchen an und wartete. Nichts weiter. Nach knappen zehn Minuten war ich um einige Erfahrungen und insgesamt etwa ein Dutzend dämlicher Anmachen reicher. Es war ein „gemischter Chat“, Alt und Jung kreuz und quer, Vierzigjährige nannten mich „Süße“ und fragten, ob ich einen Freund hätte, fünfzehnjährige Jungs wollten „mit mir gehen“, vierzehnjährige Mädchen brauchten eine Leidensgenossin, der sie ihren Liebeskummer vorheulen konnten. Das alles war ok und höchstens in Maßen dämlich, doch dann kam Elvira. Sie war, laut Profil, 16 und wohnte in München, sie schrieb mir, fragte gleich „Was hast du gerade an?“ und verkündete: „Ich mach mirs grad mit dem Dildo meiner Mutter.“
Das also war mein erster Fake. Ein – anzunehmen – Mann, der sich im Internet mit der Fotografie einer aufreizend in die Kamera lächelnden Sechszehnjährigen versorgt hatte und nun munter an seiner Legende strickte: lesbisch, ohne Tabus, ein offenes Ohr für alle sexuellen Probleme von Gleichaltrigen. Ich lernte auch gleich den ersten Begriff des Chatvokabulars kennen: CS. Die Abkürzung für „Cybersex“ oder „Computersex“, analog zu TS = Telefonsex. Den, CS, wollte Elvira mit mir machen, sie fragte auch, ob ich ICQ hätte und vielleicht eine Cam, ihre wäre leider kaputt.
Gut, ich wusste nun, dass es tatsächlich diese Fakes gab, Männer, die sich als kleine Mädchen ausgeben, um sich an andere kleine Mädchen heranzupirschen, auch Männer als kleine Jungs oder reife Frauen, die ihrerseits kleine Jungs… alle Spielarten von dem eben, was man nicht mehr Erotik nennen mag, aber auch nicht Perversion nennen möchte. Ich wusste es – und damit hat es sich.
Aber so ist das nun einmal mit Krimiautoren: Wenn sie einen guten Stoff zu erkennen glauben, heben sie ihn auf. Genau das tat ich. Ich wurde Stammgast in Chats, benutzte verschiedene „Nicks“ (Phantasienamen, mit denen man sich anmeldet) und alle waren Fakes. Von Anfang an gab ich mir Prinzipien, setzte mir Grenzen, die ich nicht überschreiten durfte. Erstens: Nicht selbst aktiv werden und jemanden ansprechen. Zweitens: Nicht von mir aus auf das Thema Sex kommen. Drittens: Keine Bilder von jungen Mädchen stehlen und als die meinen ausgeben. Viertens: Sich auf Fakes konzentrieren.
Was mir bei diesem Eintauchen in die Welt der Chats widerfuhr, davon handelt „Pixity“. Es war lustig und tragisch, rührend und widerwärtig, sehr oft langweilig und manchmal schockierend. Ich bin – hoffentlich – kein Moralapostel, der in der Netzkultur die kommende Apokalypse wittert, ich verlange nicht „mehr Kontrolle“, „Pixity“ ist auch kein Sachbuch, sondern ein Roman. Was mich interessiert hat, war etwas ganz anderes, der Zusammenhang nämlich zwischen den Welten, der realen und der fiktiven, die Frage auch, ob in den Chats vielleicht nur das bis zum Exzess ausgereizt wird, was im wirklichen Leben längst Alltag geworden ist: das sich Verbergen hinter fremden Identitäten und Masken, das geheime Wunschdenken, aber auch die Möglichkeiten, mit anderen Menschen Gedanken auszutauschen, die man sonst niemanden erzählen kann.
Nein, ich bin kein Moralapostel, aber es wäre blauäugig, das Thema lediglich als Beobachter zu verarbeiten, das Ganze quasi akademisch-folgenlos zu schildern. Denn vergessen wir nicht, was hier geschieht: Menschen, junge Menschen werden manipuliert, sie werden gnadenlos angelogen und zu Handlungen aufgefordert, die sie besser unterließen. Das Objekt der Begierde der meisten Fakes ist das „Nacktpic“. Er selbst hat sich via Internet mit entsprechendem Material versorgt und möchte dieses nun „tauschen“. Über private Chatprogramme wie ICQ oder MSN ist dies problemlos möglich, man kann dort auch vor der Kamera posieren, wobei die Kameras an den Laptops der Fakes natürlich notorisch „defekt“ sind, sorry, oder die bösen „Ellis“ dem „Mädchen“ keine Kameras gestatten.
Es gibt in „Pixity“ eine zentrale Szene, den Sündenfall, könnte man sagen, in der diese „Nacktpics“ ein Kind in eine verzweifelte Situation bringen. Dieser Fall ist insofern authentisch, weil es mir selbst möglich gewesen wäre, eine solche Situation heraufzubeschwören und meinen „Nutzen“ daraus zu ziehen. Ich hätte nur ein, zwei Schritte weitergehen müssen, es wäre alles so schrecklich einfach gewesen. Natürlich habe ich das nicht getan, doch wenn ich daran denke, dass es andere getan haben (und ich gehe davon aus), läuft mir heute noch ein Schauer über den Rücken. Meine Recherchen in den Chats sind längst beendet, ich habe niemandem Schaden zugefügt, ich habe erlebt, wie anderen Schaden zugefügt wurde, in einigen Fällen konnte ich warnend eingreifen, beileibe nicht in allen. Ich mag das Internet immer noch (nein, ich liebe es nicht, das wäre lächerlich), ich halte das Internet für eine historische Chance, der es allerdings wie allen anderen historischen Chancen ergehen kann: Man kann sie furchtbar versemmeln und ins Gegenteil kehren. Davon handelt „Pixity“. Ein Kriminalroman aus der virtuellen Welt, die unsere wirkliche ist. Oder andersrum.
Interessante Story! Unlängst hat sich auch Peter Redvoort in „Pornos machen traurig“ über die „Teen“ Kategorie auf Pornoseiten recht kritisch geäußert …
Gustav