Sandro Veronesi: XY

veronese.jpg In diesem Roman geht es um eine Frau, die nach 15 Jahren wieder Ski fahren möchte. Damit sie das am Ende auch tun kann, sterben elf Menschen eines gewaltsamen Todes. Eigentlich ist „XY“ wie der „Ulysses“ von James Joyce, nur andersrum. Im Mittelpunkt steht ein Rätsel, das nicht gelöst werden kann, weil es keines ist. „XY“ ist kein Krimi und auch nicht mehr als das, man lernt daraus aber, wie Krimi nicht funktioniert, wenn er funktioniert.

Sehr kryptisch also. In der Nähe des abgelegenen italienischen Bergdorfes San Giuda (kein Handy, kein Fernsehen, kein Internet) sind an einem Wintermorgen zwölf Menschen mit dem Pferdeschlitten unterwegs. Sie passieren einen aus romantisch-touristischen Gründen künstlich vereisten Baum. Dann sind elf dieser Menschen tot (ein Pferd auch), ein kleines Mädchen verschwindet spurlos. Der Baum färbt sich rot, in ihm pocht das Blut der gesamten Menschheit. Die Opfer starben an Krebs oder weil sie geköpft wurden, auch vergewaltigt, sie erstickten an einer Brotrinde oder wurden Opfer eines seit zwei Jahrhunderten ausgestorbenen Hais.

Merkwürdig. Eher unglaublich. Und dazu der Baum mit dem Blut. Dahinter steckt der Teufel oder der liebe Gott. Auch die ermittelnden Behörden ahnen das und beeilen sich, das Massaker als das Werk islamistischer Terroristen zu deklarieren, wozu man flugs sämtliche Tote köpft, wie es so Islamistenart ist. Nur Don Ermete, der Pfarrer des Ortes, gibt sich mit dieser rationalen Erklärung nicht zufrieden, er bemerkt, wie sein Dorf auseinanderbricht, wie alle psychischen Wunden, die geografische und soziale Isolation sowie die Folgen fortwährender Inzucht geschlagen haben, aufbrechen. Ihm zur Seite steht die junge Psychologin Giovanna, bei der zum Zeitpunkt der Bluttat selbst und ganz wortwörtlich eine Wunde wieder aufgebrochen ist, eine 15 Jahre alte Schnittverletzung an der Hand. Gemeinsam versuchen sie den Menschen zu helfen, die plötzlich keine Wurzeln mehr haben und sich vom Namenspatron ihres Dorfes, dem für die Verzweifelten zuständigen Heiligen Judas Thaddäus, verraten fühlen (der natürlich von Unwissenden stets mit einem anderen Verräter namens Judas verwechselt wird). Schwieriger Roman, was?

Irgendwie gar nicht „wirklich“, so voller Bilder und Parabeln und Symbole, Anti-Krimi. Aber, ganz unter uns: „XY“ ist in etwa so schwierig wie der schon genannte „Ulysses“, also eigentlich kein Problem, wenn man ein Buch nicht mit der Angst betritt, man müsse schon Literaturwissenschaftler sein, um es zu verstehen. Mit anderen Worten: Ein Roman der Klasse Franz Kafka. Alles bedeutet etwas anderes als da geschrieben steht, aber eigentlich zählt nicht das, was da geschrieben steht, sondern das, was man daraus liest.

Ein Beispiel: Giovanna hat sich vor 15 Jahren mit dem Brotmesser verletzt. Sie war eine talentierte Skiläuferin auf dem Sprung in die Nationalmannschaft, aber danach ist es aus mit ihrer Karriere. Genau diese Narbe bricht wieder auf, medizinisch unerklärlich, aber es ist eben ein Bild. Die Vernarbung, die wieder zur offenen Wunde wird, das Verdrängte, das sich zurück ins Bewusstsein blutet und schmerzt. Einen ähnlich gelagerten Fall gibt es auch unter den Dorfbewohnern, einen talentierten Skispringer, der seinen Sport nach einem Vipernbiss nicht mehr ausüben konnte und seitdem in San Giuda vor sich hin dämmerte, bis ihn die furchtbaren Ereignisse befreien.

So könnte man sich durch das Buch arbeiten, Schritt für Schritt, Bild für Bild. Hinter jedem Alltäglichen steckt etwas Grundsätzliches, hinter jedem Grundsätzlichen etwas Alltägliches. Das Leben in diesem verfluchten Dorf, eine Ansammlung psychischer Krankheiten, zerbricht, der Glaube an höhere Mächte, der, weil er nicht bewiesen werden kann und muss, immer tröstlich ist, schwindet genau in dem Moment, wo aus ihm ein BEWEIS wird. Bereits hier klingt ein dominierendes Thema des Buches an, das Gegen- und Miteinander von Geistes- und Naturwissenschaft, wie es sich auch in der Personenkonstellation Priester – Psychologin offenbart. Tatsächlich jedoch normalisiert sich das Leben in San Giuda, es kommt Bewegung hinein, die Verhärtungen weichen auf. Giovanna und der Pfarrer werden das Dorf ebenso verlassen wie viele der Einwohner, sie sind nicht „geheilt“, aber sie sind auf dem Wege, sich selbst zu befreien.

Das, wie gesagt, wird uns in vielen Bildern etc. erzählt. Auch der „Ulysses“ arbeitet so. Ein Mann spaziert durch Dublin und hinter jeder alltäglichen Banalität lauert das Große-Ganze. In „XY“ ist es, zunächst jedenfalls, umgekehrt. Ein unerklärlicher Mord erschüttert den Glauben an Gott, den man ob seiner Grausamkeit nicht mehr versteht (Zwischenbemerkung: Wie auch im jüngst erschienenen „Kettenacker“ von Rainer Gross, wo die Annäherung aus der konkreten Historie erfolgt), aber im Grunde geht es um die Aufklärung von Verbrechen, die man an sich selbst begangen hat, um die Chancen, die dem eigenen Leben nicht zuteil wurden. Giovanna und Don Ermete sitzen gegen Ende des Buches eine Nacht lang zusammen und suchen, ganz auf die herkömmliche Detektivenart, nach dem Schlüssel, der die unfassbare Tat aufschließen soll. Sie finden dabei sich selbst, öffnen sich selbst, sie erzählen, sie weinen, sie lachen, essen und trinken, die Narben brechen auf und werden wieder zu Wunden, denen man die Chance gibt, anders zu heilen.

Das ist der Krimi in diesem Nichtkrimi, der nicht etwa mit „dem Genre spielt“, sondern mit der Art und Weise, wie der größte aller Ermittler arbeitet: das Gehirn. Es baut heile Welten aus dem, was es vorher zerstört hat und es zerstört, was es sich als heile Welt hergerichtet hat. Es giert nach Enträtselung und hat danach nichts Eiligeres zu tun, als Erkenntnisse in neue Rätsel zu verwandeln. Schließlich werden alle Fesseln abgestreift, auch die der Orthografie. Auf den letzten zehn Seiten des Romans begleiten wir Giovanna bei ihrer ersten Skiabfahrt seit dem Messerschnitt, ein Text ohne Punkt und Komma, ein Text ohne Ordnung und Regeln, ein Text hin zur Befreiung.

Ist das jetzt ein „gutes“ Buch, ein „guter“ Krimi gar? Ja, aber man muss ihn als Leser selbst zu einem guten machen. Ein Krimi? Wenn man das notwendige Lesemodell ansetzt: natürlich, wie alle Literatur. Letztlich ist doch Krimi genau das: Ich schaue anderen dabei zu, wie sie in Leben lesen, als wären sie ein Verbrechen. Das ist immer in Bilder gepackt, zum „Genre“ komprimiert, auf den kleinsten gemeinsamen Nenner gebracht. Da ist jemand ermordet worden und jetzt wird das aufgeklärt, das Wie und Wann und Wer und Warum, dann ist die Wunde zu und alles wieder gut. Nun ja. Wer überzeugt ist, es brauche unbedingt den 87. Krimi, der uns erzählt, wie schlimm es in Südafrika zugeht oder wer das wahre Verbrechen prinzipiell in den „Metropolen“ verortet, für den eignet sich „XY“ als Lektüre nicht sonderlich. Ebenso wenig für die Apostel der kriminalliterarischen Leichtgängigkeit, alles möglichst direkt und bilderfrei, der Krimi als Gottesdienst für das von unsinnigen liturgischen Regeln korsettierte Genre. Alle anderen mögen gerne in „XY“ eintauchen, um den Boden dessen, was wir heute „Krimi“ nennen, wenigstens flüchtig zu berühren.

dpr

Sandro Veronesi: XY. 
Klett-Cotta 2011
(XY. 2010. Deutsch von Michael von Killisch-Horn).
394 Seiten. 22,95 €

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