Wie weit muss man sich vom Krimi entfernen, um einen zu schreiben? Vielleicht gar nicht so weit; vielleicht genügt es, einfach aus dem Wagen zu steigen, mit dem man auf gut ausgebauten Straßen durch das Genre fährt. Lustwandeln. Die Landschaft – das Verbrechen – zu Fuß erkunden – oder sagen wir besser: mit den Möglichkeiten einer neugierigen Literatur beobachten. Guido Rohms Erzähldoppelband „Fleischwölfe / 0 (Null), eine Noirvelle“ ist das auf- und anregende Ergebnis einer solchen Exkursion abseits der von gelangweilten Spannungsanimateuren gesäumten Pfade des Genres.
„Fleischwölfe“ ist eine Menge Genre. Ein wie bei Rohm üblich blutiges Genre, schon der Titel sagt es. Eine Familie, sie lebt in einer Wüstengegend, erlegt Menschen und verspeist sie. Bis alles auffliegt. Erzählt wird die Geschichte aus der Perspektive diverser handelnder Personen, vom herrlich unkomplett brabbelnden Sohn, der sich einen Jungen als Hund hält, über den Familienvater, der ja nichts Schlechtes getan hat, verglichen mit Auschwitz, bis zu den Eltern eines der Opfer, die, indem sie von ihrer Trauer erzählen, sehr viel über sich selbst und ihr Scheitern offenbaren.
Rohms Kunstgriff besteht nun darin, „Fleischwölfe“ als „Roman zum Film“ auszuweisen, wobei letztlich offen bleibt, was zuerst da war. Die Fiktion wird zur Grundlage von Fiktion, das heißt: Es gibt keine Wirklichkeit oder die Fiktion ist die Wirklichkeit oder die Wirklichkeit die Fiktion, die es nicht gibt. Wie dem auch sei: Rohms bewährte Erzählweise, dieses Verknappt-Kantige, in dem der Scherz trauert und die Trauer scherzt, ist ihrerseits ein neuer Weg durch das Genre, dessen Versatzstücke wie bisher unentdeckt erscheinen. Diese Diktion erinnert mich immer mehr an Bert Brecht und ich nenne Guido Rohm also vorläufig den Bert Brecht der Kriminalliteratur, bis mir ein besserer Vergleich einfällt.
„0 – eine Noirvelle“ ist das Gegenteil der „Fleischwölfe“ – auf den ersten Blick nämlich sehr krimifern. Wir nehmen an den Schicksalen zweier Frauen teil, eines von ihrem Manager geformten Nacktmodells und einer biederen, von ihrem Mann gepeinigten Hausfrau. Ein Fremder namens Otto Seuse taucht auf (so wie in den „Fleischwölfen“ Guido Rohm persönlich auftritt), ein Irrfahrer, der nicht nur dem Namen nach als Odysseus identifizierbar ist.
Zunächst verschwindet, nach einem Treffen mit Otto Seuse, das Nacktmodell, es verschwindet aus der Fremdbestimmung ebenso wie später die Hausfrau, nachdem sie einen Mord begangen und sich immer mehr auf das Schicksal des Modells fixiert hat. Zwei Frauen tilgen ihre Spuren, was bleibt ist das Verbrechen der Ich-Zerstörung. Wie schon in „Fleischwölfe“ sind hier das Auffressen und Aufgefressenwerden die zentrale Thematik. Die Frauen existieren nur noch in den Erzählungen, im Fiktiven, Opfer, die sich in Luft aufgelöst haben, weil auch die Verbrechen, die man an ihnen begangen hat, Fiktion sind.
„Die einzig fassbare Realität, die es gibt, ist das Verschwinden.“ ,heißt es in „Fleischwölfe“. „(…) Das Leben ergibt keinen Sinn, weil es nur das Verschwinden gibt.“
Zwei Erzählungen über Kannibalismus, über die Alltäglichkeit des Verschwindens, das nicht nur im Wortsinne Sich-Verzehren. Kriminalliteratur? Aber immer. So ziemlich das Anregendste, was das Genre in letzter Zeit zu bieten hatte.
Dieter Paul Rudolph
Guido Rohm: Fleischwölfe / 0 – Eine Noirvelle. Evolver 2012. 200 Seiten. 14 €
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