Das Kind hat verschiedene Namen. Rezension, Buchbesprechung, Literaturkritik. Müsste ich mir einen aussuchen, dann letzteren, weil „Literaturkritik“ in schöner Eindeutigkeit die Elemente benennt, um die es geht: Man kritisiert Literatur.
Und schon stockt der Leser. Kritisieren? Das Wort hüllt sich im Alltagsgebrauch fast vollständig in Negatives, dabei heißt „kritisieren“ nichts weiter als „eine Sache von allen Seiten genau betrachten“. Kants „Kritik der reinen Vernunft“ etwa ist eine „Rezension“ der reinen Vernunft, bei der diese in all ihren Facetten beschaut, analysiert, zu einem philosophischen Bezugssystem montiert wird.
Somit wäre die Hauptanforderung an eine Rezension formuliert: Sie ist das gedankliche und sprachliche Ergebnis eingehender und erschöpfender Betrachtung eines literarischen Textes. Eine Beschreibung also, und hier stockt der Leser abermals. Etwas fehlt. Die Bewertung.
Rein theoretisch ähnelt die Buchbesprechung dem, was wir in der Schule als dialektischen Aufsatz kennen gelernt haben: These – Antithese – Synthese. Oder: die Stärken eines Textes – seine Schwächen – das Abwägen von beiden und die begründete Entscheidung des Rezensenten, zu welchem Gesamturteil er wie gekommen ist.
Eine schöne Theorie. In der Praxis schaut es anders aus. Zunächst: Traditionelles Medium der Buchkritik ist die Zeitung. Später gesellten sich der Rundfunk und noch später das Internet hinzu. (Historisch ist das nicht korrekt; im 18. Jahrhundert etwa erschienen Rezensionen zumeist in „Almanachen“, Büchern also, und waren noch umfangreicher. Rezensionen, wie wir sie kennen, sind jedoch das Resultat der Entwicklung von Tagespresse).
Der Anspruch umfassender Kritik scheitert somit schon an etwas so Profanem wie der „Raumnot“. Viele Rezensionen müssen sich mit ein paar Dutzend Zeilen bescheiden, und auch wer z.B. im Internet Herr über die Zahl der Tastaturanschläge ist, wird quantitative Ökonomie walten lassen. Denn: Wer liest schon zwanzig Seiten erschöpfender Kritik, ein einziges Buch betreffend?
Ein Rezensent ist also gezwungen, seine dialektische Argumentation zu verkürzen – oder ganz auf sie zu verzichten. Die eigentliche Kritik findet im Kopf statt, und aufs „Papier“ gelangt nur die Synthese, das Ergebnis dieser Kritik, mit ausgewählten Beispielen belegt, die nicht selten selbst starke Verkürzungen von Sachverhalten sind, Schlüsselparolen sozusagen, die jeder, der sie liest, versteht und die als kommunikativer common sense eine bei Rezensent und Leser identische Bedeutungskammer aufschließen.
Ein Beispiel: Wenn ich als Rezensent schreibe, ein Krimi sei „spannend erzählt“, dann gehe ich davon aus, dass für den Leser „Spannung“ das Gleiche ist wie für mich. Das bedeutet: Kleinster gemeinsamer Nenner, der sich aus unseren Erfahrungen ableitet. Was Rezensent und Leser allerdings wissen sollten: Würde ich weiter differenzieren, dieses „spannend erzählt“ also selbst kritisieren, ließen die ersten unangenehmen Resultate, sprich: das Auseinanderdriften von Rezensenten- und Lesermeinung, nicht lange auf sich warten.
Nun liegt der Einwand nahe, eine solche dialektische Vorgehensweise sei nur bei solchen Büchern möglich, die weder ganz gut noch ganz schlecht sind oder doch immerhin so gut / so schlecht, dass die jeweils anderen Argumente nicht ins Gewicht fallen. Aus meiner Erfahrung als Leser und Rezensent kann ich jedoch sagen, dass solche Bücher in der Minderheit sind. Meistens hat man immer etwas zu kritteln, und auch misslungene Werke können durchaus Lobenswertes aufweisen.
Ein zweites Phänomen stört die praktische Umsetzung des eingangs geschilderten Kritik-Modells: die Lesererwartung. Was der Leser von einer Rezension verlangt, sind Information und Bewertung. Er möchte wissen, worum es geht und ob das Buch nach Rezensentenansicht gut oder schlecht, empfehlenswert oder nicht ist. Klare Aussage, in der Kürze liegt die Würze, eine pointierte „objektive“ Information: und wie der Sprüche mehr sind. Das jedoch ist ein zentrales Problem: Die Erwartung der Leser kollidiert mit den Regeln, die der Buchkritik innewohnen. Letztlich geht es darum, sich möglichst schnell darüber zu informieren, ob es sich lohnen könnte, wertvolle Lesezeit, die gleichzeitig Lebenszeit ist, in ein Buch zu investieren.
Es gibt durchaus Techniken, den Leser in einer Rezension halbwegs umfassend, d.h auch „dialektisch“ zu informieren, ohne dass er nach geraumer Zeit die Lektüre frustriert oder verwirrt abbricht. Womit wir das „Wie schreibe ich eine Rezension“ angesprochen hätten. Genauer: Den Unterhaltungswert einer Rezension, ihren stilistischen, formalen, dramaturgischen Aufbau. Im Idealfall kann dies das oben beschriebene Dilemma von eindeutiger, „objektiver“ Information und ausführlicher Besprechung des Gegenstandes wenigstens abmildern.
Eine Möglichkeit wäre etwa, die Rezension als den Dialog eines Fürsprechers und eines Anklägers zu gestalten, These und Antithese also zu personalisieren. Im weiteren Verlauf der „Schule der Rezensenten“ werden wir dies tun, auch um die Problematik von „Kritik“ besser verdeutlichen zu können.
In der nächsten Folge fragen wir uns, wer Rezensionen eigentlich braucht. Der Leser? Der Verlag? Gar der Autor? Und welche Ausbildung benötigt ein Rezensent überhaupt?