Stell dir das vor: Ein Rezensent erhält ein Buch zur Besprechung, von dem er von vornherein weiß, dass es ihm nicht gefallen wird. Sagen wir: die Reprintausgabe eines Heftromans aus den 50er Jahren, „Inspektor Gnadenlos und das blonde Gift aus Husum“, ein Produkt deutscher Brachialprosa. Nein, er mag es nicht. Er hasst es. Er muss / soll es aber besprechen. Was tut er?
Du antwortest: Was ich nicht mag, bespreche ich auch nicht. Es sei denn, die nächste Rate für mein Ferienhaus in der Toscana steht noch aus. Was das betrifft, können wir dich beruhigen. Dein finanzieller Verlust wird sich verschmerzen lassen, denn hier gilt das Wort des amerikanischen Kollegen → Dave J. Montgomery der auf die Frage nach seinen Verdienstmöglichkeiten als Krimikritiker antwortete:
„How can I afford to do it? Easy answer: I can’t. I have a job. (Even more importantly, I have a wife with a good job.)”
Aus welchen Gründen auch immer bist du indes gezwungen, dir einige Zeilen zu diesem Machwerk abzuringen. Also: ein Verriss! Logisch. Du magst das Buch nicht, du nimmst es auseinander wie die hungrige Katze die hilflose Maus. Schön. Tu das. Wir haben Meinungsfreiheit.
Nur: Bei einer Rezension geht es nicht unbedingt darum, deine eigene Befindlichkeit beim Lesen zur Grundlage deines Urteils zu nehmen. Das kannst du als „Normalleser“ durchaus machen und etwa in einem der inzwischen zahlreichen Foren von allgemeinen Literatur- oder Krimiportalen im Internet veröffentlichen. Aber nenne dich dann bitte nicht „Rezensent“. Die Berufsbezeichnung ist zwar nicht geschützt, doch einige Rezensenten verfügen über dicke Arme und flinke Fäuste.
Zurück zu unserem Beispiel. Es könnte ja sein, dass diese Reprintausgabe eines Heftromans aus anderen Gründen ein positives Ereignis genannt werden kann. Vielleicht dokumentiert es die gesellschaftliche Stimmung der Fünfziger Jahre, ist ein Mosaiksteinchen bei der Beurteilung der Frage nach dem Frauenbild jener Zeit, zeichnet die Kommunistenfurcht nach oder idealisiert das Bild einer aus Elementen der Nazivergangenheit und der Westwerte-Gegenwart zusammengehauenen Einstellung. Könnte auch sein, dass das Werk aus literaturhistorischen, literaturästhetischen Gründen von Bedeutung ist. „Die Sprache der Groschenhefte der Fünfziger Jahre als Überhöhung der Alltagssprache“ – so sehen Titel von Doktorarbeiten aus.
Gleichviel: Es könnte sein, dass du deine sämtlichen inhaltlichen Bedenken zurückstellst (also eine normalerweise „Meinung“ genannte Emotion unterdrückst und nicht an den Leser weitergibst) und dich auf diese obengenannten Positiva konzentrierst. Ein Grund könnte dein Leserpublikum sein.
Wenn du das tätest, wärst du ein Rezensent, ein Kritiker, der ja, wie wir schon gehört haben, das Objekt seiner Betrachtung hin und her wendet, es möglichst von allen Seiten betrachtet. Dass man nicht alle diese Seiten in der Besprechung erwähnen wird, ist klar. Schon aus Platzmangel. Ein Rezensent sollte indes in der Lage sein, genau diese Objektbetrachtungen vorzunehmen und sich aus ihnen das zusammen zu setzen, was er später dem Leser vorsetzt. In der Wirklichkeit dürfte hier während der Lektüre eine Art Detektionsprozess, ein Scannen möglicher Deutungswege ablaufen. Der Rezensent bleibt wohl auf seinem Hauptweg, registriert jedoch, und sei es nur ganz kurz, mögliche Abzweigungen. Über die Details dieses Prozesses werden wir im Verlauf unserer Ausführungen noch erschöpfend zu berichten haben. Wichtig ist zu wissen: Es gibt diesen Prozess.
Im Extremfall könnte das dazu führen, dass EIN Rezensent gleich mehrere Versionen seiner Besprechung anfertigt. Sagen wir: Zwei euphorische, drei nüchtern analysierende, sieben naja-getränkte Wischiwaschis und dreiundzwanzig Verrisse. Theoretisch. Etwas übertrieben jetzt. Aber im Kern schon richtig.
Schockiert? Bevor wir uns weiter damit beschäftigen wollen, warum dies so sein MUSS, kommen wir kurz zu der Frage, was für ein merkwürdiges Wesen das wohl ist, dem solche Fähigkeiten unterstellt werden. Ist es ein mehrfach in sich gespaltener Psychopath? Ein gewissenloser Schurke, der sein Meinungsmäntelchen in jeden Wind hängt? Oder, noch schlimmer: ein promovierter Literaturwissenschaftler?
Keine Panik. Ein abgeschlossenes Studium der Germanistik oder der vergleichenden Literaturwissenschaft kann schon deshalb nicht die formale Voraussetzung für eine Rezensententätigkeit sein, weil an unseren Universitäten weder das Schreiben noch das Lesen gelehrt werden. Ein mit dem Magister Artium erfolgreich beendetes Studium etwa bedeutet lediglich, dass der Absolvent gelernt hat, wissenschaftlich zu arbeiten; eine Promotion, dass der frischgebackene Doktor, die frischgebackene Doktorin aus wissenschaftlicher Arbeit eigenständige wissenschaftliche Erkenntnisse zu ziehen in der Lage ist.
Dass dennoch ein Gutteil des Rezensionspersonals sich aus den Reihen der Literaturwissenschaften rekrutiert, mag am allgemeinen Interesse dieser Spezies für Belletristik liegen. Ich weiß es nicht.
Was ich auch nicht weiß: Was genau man eigentlich braucht, um vernünftige Kritiken zu schreiben. Lesen sollte man. Der eingangs erwähnte amerikanische Kollege hat sich zum Ziel gesetzt, drei Krimis pro Woche zu lesen, was angesichts der Tatsache, dass er seine Brötchen hauptsächlich mit anderer Arbeit verdient, nicht wenig ist. Ich etwa, der ich meine Brötchen ebenfalls nicht mit dem Rezensieren verdiene, komme normalerweise auf zwei Krimis die Woche, im Urlaub können es aber auch mal fünf werden.
Nun ist das schiere Menge. Nicht wieviel und was du liest ist von Bedeutung, sondern wie du liest. Zunächst: Auch Krimirezensenten sollten ab und an auch andere Bücher lesen. Dann: Sie sollten Rezensionen lesen und mit dem vergleichen, was sie selbst in einer Rezension des gelesenen Buches schreiben würden. Und schließlich: selber schreiben. Am Besten wie oben beschrieben: ein Buch, dazu einige Besprechungen, die sich voneinander unterscheiden und dennoch auf Behauptungen gründen, die man nicht widerlegen kann. Dazu mehr das nächste Mal.