Redet man von „Erzählperspektive“, wird fast immer der Begriff „Kamera“ assoziiert. Das „Ich“ filmt die Handlung aus der Perspektive einer handelnden Person, das „Er“ hängt die Kamera quasi über dem Handlungsraum auf und gibt wieder, was sich dort tut. Sie folgt einer oder mehreren Personen, ist nüchterner und distanzierter als die Ich-Perspektive, deren Vorteile eher in der subjektiven Färbung des Geschilderten sowie der leichteren Identifikationsmöglichkeit des Lesers mit dem Erzähler liegen.
Ich und Er können jeweils variieren. Conan Doyles Sherlock-Holmes-Geschichten etwa werden im „Ich“ aus der Perspektive Doctor Watsons erzählt, der die Abenteuer auch explizit notiert und den Helden Holmes ins Zentrum der Er-Perspektive stellt. Der beabsichtigte Effekt liegt auf der Hand. Indem er sich selbst als Autor ins Spiel bringt, vermag er die ungewöhnlichen Fähigkeiten des Detektivs durch den eigenen, „unmittelbaren“ Ich-Kommentar hervorzuheben. Als (meistens) Nebenperson der Handlung dient er zudem als Stichwortgeber und, da weniger logischen Gemüts, zusätzlicher Verstärker des Holmes’schen Genius. Dieser wiederum darf nicht als „Ich“ kenntlich gemacht werden, denn das Geniale wird erst genial, wenn es einem „normalen“ und staunenden Gesprächspartner quasi druckreif mitgeteilt wird.
Im neueren deutschen Krimi arbeitet Wolf Haas mit einer ebenso originellen wie umstrittenen Perspektivtechnik: Die Handlung wird aus der Sicht eines nicht weiter explizierten „Ich“ erzählt, dessen Sprache, um es vorsichtig zu formulieren, „eigen“ ist und so gar nicht dem Korrektdeutsch entspricht. Das Berichtete ist an ein ebenso wenig kenntliches „Du“ adressiert.
Originell, weil sich hier eine Erzählebene außerhalb der eigentlichen Handlung auftut, die den Text ironisiert, umstritten, weil Haas’ Technik so gar nicht den Konventionen entspricht. Die Stimme des „Ich“ übernimmt die Färbung des Glases, durch das man die Handlung verfolgt und schafft zugleich besagte Ebene, die zwar imaginär bleibt, aber vorstellbar ist. Vielleicht sitzen zwei am Stammtisch zusammen, und A erzählt B von Detektiv Brenners Abenteuern?
Jetzt sind weitere wichtige Stichworte gefallen: Erzählebene, Färbung des Glases. Bei reinen „Er“-Perspektiven ist es praktisch gesetzmäßig so, dass die Kamera ÜBER der eigentlichen Erzählebene hängt. Sie ist Auge und Schreibhand des Autors, der ebenso imaginär wie vorstellbar über allem schwebt und alles dirigiert. Gelegentlich schleicht sich in die eigentliche Tätigkeit des Erzählens ein Element dieser übergeordneten Ebene ein. Etwa dann, wenn der Autor einen Kommentar abgibt.
Zu Beginn des 10. Kapitels meines „PromiMassakers“ (ich nehme hier ein Beispiel aus eigener Produktion, weil ich da genau weiß, dass es beabsichtigt war) heißt es:
„So also sah ein Fernsehstudio von innen aus. Krawuttke blickte sich staunend um. Nicht, dass es ihn beeindruckt hätte. Er las lieber und verdächtigte die elektronischen Medien nicht ganz zu Unrecht, sie würden die Menschen noch mehr verblöden als es die Druckmedien und die Schulen schon erfolgreich praktizierten.“
Was ist hier „falsch“? Natürlich das „nicht ganz zu Unrecht“. Es ist ein Kommentar des Autors, der Krawuttkes Verdächtigungen absegnet. Hier findet also ein sehr kurzer Perspektivwechsel statt: Vom Er der Erzählung zur Autoreninstanz. Und warum das Ganze? Einfach, weil hier zum ersten Mal der Autor ins Spiel gebracht wird und das einleitet, was das letzte Drittel des Romans bestimmen wird. Die Frage nämlich, wer hier was erzählt. Ist der „fiktive Held“ gleichbedeutend mit dem Autor? Ist der Mörder der Autor?
Bei der Ich-Perspektive steht vor allem die „Färbung des Glases“ im Mittelpunkt. Das Ich kann etwas aus unmittelbarem Erleben berichten oder quasi, nachdem alles gelaufen ist, erinnern. Es kann in den Fall hineinrutschen wie der Leser selbst, tastend, passiv, ständig dabei, Informationen zu verarbeiten, oder es kann das Wissen eines Autors haben, die Geschichte vor dem Hintergrund des Endes formulieren, dramatisieren usw.
Und DAS ist keine Trivialität! Die Entscheidung, ob ich mein Ich „zeitnah“ durch die Handlung jage oder diese aus der zeitlichen Distanz reportieren lasse, hat vor allem stilistische Auswirkungen! Auch hier ein (etwas extremes, aber deshalb auch einleuchtendes) Beispiel, um das zu belegen.
„Mensch, was’m das jetzt???!!! — Bleib auf der Fahrbahn, du A…. Wegrollen! Wegrollen! Wegrollen! Oooooh…“
oder:
„Der LKW, dessen gelbe Augen bislang stur auf die Straße geschaut hatten, wandte mir plötzlich sein Gesicht zu. Ich wusste, dass ich keine Sekunde überlegen durfte, ich wusste, dass ich mich zur Seite werfen, mich ins Gebüsch rollen musste…“
Die erste Variante versucht, die unmittelbaren Gedanken des Erzählers in die Schriftform zu bringen, die zweite zeigt ihn quasi im Nachhinein, sich des Geschehenen erinnernd. Er hat’s überstanden und bemüht sich, das Ereignis distanziert und detailliert zu schildern. Man wird in der Praxis wohl eher die zweite denn die erste Variante antreffen. Sie entspricht zum einen eher den tradierten Erzählformen (die fast alle im 19. Jahrhundert entwickelt wurden) und ist risikoloser, weniger von den individuellen Sprachpräferenzen und dem bildlichen Vorstellungvermögen des Lesers abhängig.
Selbstverständlich ist es kein Naturgesetz, dass der Kamerafokus während der gesamten Handlung auf EINER Person ruhen muss, wähle man nun die Ich- oder die Er-Perspektive. Es ist ebenfalls kein Naturgesetz, dass innerhalb eines Textes nicht sowohl „ich“ als auch „er“ gesagt werden kann. Ein Naturgesetz ist es aber, dass die Wahl der Perspektive immer auch Auswirkungen auf den Stil und die Erzählkonstruktion hat und, of course, auf die Spannungsbogen.
Erzählperspektiven sind jedenfalls eine meines Erachtens gerade in Krimis noch recht stiefmütterlich behandelte Möglichkeit, Spannung zu erzeugen. Nächstes Mal werde ich versuchen, genau das exemplarisch zu tun. Dann werden wir auch hoffentlich wissen, aus welcher Perspektive (oder welchen Perspektiven?) wir unseren Krimi erzählen wollen.
„Erzählperspektiven sind jedenfalls eine meines Erachtens gerade in Krimis noch recht stiefmütterlich behandelte Möglichkeit, Spannung zu erzeugen.“
Hallo dpr,
ob es generell eine Evolution des Krimigenres gibt, hat uns ja schon kontrovers beschäftigt.
Sei es drum, für mich stellt es gewissermaßen ein Reifezeichen moderner gut gemachter Krimis dar, wenn sie mit wechselnden Erzählperspektiven arbeiten. Es gibt sicher gute stilistische Gründe im Einzelfall darauf zu verzichten, aber der Einssatz dieses „Literaturbarriques“ gehört zum zeitgemäßen Krimi. Wobei man auch noch unterscheiden muss; manche Autoren richten, neben dem Erzählstrang, gern ´mal den Blick auf den Täter (mit dem Bösen auf Du und Du), das schafft Spannung. Aber die gleichberechtigte Behandlung mehrerer Personen, kann nicht nur Spannung erzeugen, sondern auch die Komplexität beträchtlich steigern.
Mit besten Grüßen
bernd
Hallo Bernd,
exakt. Wobei es natürlich noch Steigerungen gibt. Zum Beispiel Perspektivwechsel, die wie Kamerafahrten funktionieren: Aus der Distanz des ER langsam auf eine / mehrere Personen zu, durch die Hirnschale zum ICH, Überblendungen… Oh, jetzt verrat ich ja schon Teil 4 des Summer Camps!
bye
dpr