Auf den fernen Kontinent der Kindheit führt uns der heutige Sommertrip. Nein, eine Feuerzangenbowle werde ich nicht ansetzen. Statt der Dampfmaschine sorgten Beatles und Stones für mächtig Druck, die harmlosen Streiche waren dem gewichen, was später als „1968“ legendär wurde, und in Bonn dümpelte die Große Koalition, die uns auch heuer wieder erwartet.
Sei’s drum. Davon bekam ich nichts mit. Meine kriminelle Energie erschöpfte sich im Eintunken kreischender Mädchen in die Chlor-Piss-Brühe des Freibades, und das wöchentliche Aufsuchen der kleinstädtischen Pfarrbücherei war der einzige Tribut, den ich einer allmählich sich meiner bemächtigenden Leselust zollte.
Fünf Pfennige betrug die Leihgebühr für Schüler, zehn für Erwachsene, und Karl-May-Bände zählten als Erwachsenenbücher, während übel kastrierte Ausgaben des „Lederstrumpf“ und von „Gullivers Reisen“ als kindgerechte Lektüre durchgingen. Doch nach denen stand mir der Sinn nur am Rande, ja, das waren Ersatzbeschaffungen, Sekundärbefriedigungen, weil ich wieder einmal des wahren Objektes der Begierde nicht habhaft geworden war: „Das rote U“.
Der Tag, an dem mir das sonst ständig ausgeliehene Buch in die Hände fiel, war ein Highlight meines jugendlichen Daseins, und wäre ich schon in der Pubertät gewesen, hätte ich das ältliche Fräulein, das mir diesen „Kinderkrimi“ schließlich aushändigte und dafür meinen Fünfer in Empfang nahm, schier abgeküsst. Heimrennen, kein Gedanke mehr an die Mädels in der Brühe des Freibads, Buch aufgeklappt, lesen. Und enttäuscht sein. Nicht richtig enttäuscht. Aber irgendwie schon, nicht wissen warum.
1932 war Wilhelm Matthießens „Das rote U“ erstmals erschienen, die Geschichte einer Jugendbande, der ein geheimnisvolles und unsichtbares „rotes U“ Briefe mit Anweisungen schreibt, sich zum Anführer aufschwingt und den vier Jungs plus ein Mädchen immer wieder neue und heikle Aufgaben stellt. Da gilt es, die Vögel des versoffenen Schusters aus dem Gefängnis ihrer Kellervoliere zu befreien, einem Arbeitslosen binnen einer Woche Arbeit zu verschaffen oder dafür zu sorgen, dass an einem ganz bestimmten Tag die Schule ausfällt. Endlich tauchen auch wahre Ganoven auf, es kommt zu einer Entführung, einer Verfolgungsjagd, einer dramatischen Rettung auf nächtlichem Eis – und das „rote U“ offenbart sich.
Genau. Das war’s. Denn wer sich hinter dem Namen „rotes U“ verbirgt, es ist so klar wie Kloßbrühe, von Anfang an, und entweder war ich sauer, weil ich nicht sofort erriet, wer der Geheimnisvolle ist, oder ich war sauer, weil ich es sofort erriet und damit des roten Spannungsfadens verlustig ging.
Nun ja. Jetzt, beim Wiederlesen hab ich es natürlich sofort rausgekriegt. Man ist ja älter und reifer geworden, krimierfahren und das, was man einen „abgewichsten Leser“ nennt, dem die schriftstellerischen Kniffe eines Wilhelm Matthießen (1891 – 1965 übrigens) nur noch ein müdes Lächeln entlocken. Dafür sorgt anderes für Erheiterung. Etwa die Stelle, in der begründet wird, warum ein Mädchen in einer Jungenbande tätig sein darf:
„Silli war das einzige Mädchen in der Bande und hatte ein helles Köpfchen. Sonst wäre sie auch gar nicht aufgenommen worden, obwohl sie Boddas’ Schwester war. Und es hatte Boddas auch allerlei Mühe gekostet, seine Freunde von Sillis Wert zu überzeugen. Freilich, nachher hätten sie das schlaue blonde Mädel nicht mehr missen mögen. Keiner konnte so lecker Karnickel braten wie sie, konnte so wunderbar die zerrissenen Jacken und Hosen flicken; und wenn es irgendwo keinen Ausweg mehr gab – Silli wusste gewiss den aller-, allerletzten noch zu finden.“
Ist das nicht niedlich, meine lieben emanzipierten Leserinnen? Doch, es macht schon Spaß, diesen Kinderkrimi nach Jahrzehnten noch einmal in der Hand zu halten. Zumal er sauber geschrieben ist, mit den herkömmlichen Mitteln Spannung erzeugt und fünf Helden schafft, die man als Kind gerne auch sein möchte. Obwohl – wenn ich heute die Wahl hätte zwischen „Rotes U“-Lesen und Mädels in Wasser eintunken – ich weiß nicht, für was ich mich entscheiden würde.
Wilhelm Matthießen: Das rote U.
dtv 1985 (Neuauflage 2005). 172 Seiten, 5,50 €
Hi,
Ich finde das Buch klasse! Es ist einfach so spannend und so hervorragent geschrieben. Ich habe es jetzt 2 mal durchgelesen und jetzt muss ich ein Referat führen aber ich denke dies wird ein klarer Erfolg. Schade das er nicht noch mehr geschrieben hat.
Mfg Rick
Das Buch ist Spitze – hab’s schon viermal gelesen.
Sowohl das Original von 1932 (Erbstück) als auch eine aktuelle Ausgabe. Die Unterschiede im Text sind übrigens auch interessant.
Zur vorstehenden Inhaltsbeschreibung:
Wer zum Teufel ist HEINRICH Matthießen (1891 – 1965 )? Keine Ahnung, welches rote U der Autor angeblich sogar zweimal gelesen hat.
Meine beiden Exemplare sind von WILHELM Matthießen und der ist 1966 gestorben.
Gruß, Christoph
Uh, da wird nach langen Monaten ein peinlicher Verwechsler doch noch ans Tageslicht gezerrt: WILHELM statt Heinrich, schon richtig, aber diese altertümlichen Vornamen, da kann unsereiner schon mal durcheinander kommen. Wird korrigiert, ja, ja… Aber beim Todesjahr gibts tatsächlich Differenzen. Meine Quelle sagt: 1966. Wikipedia: 1965.
bye
dpr