Wer Portugal nicht kennt, beschreibt es in einem Wort. Fado. Etwas, das aus Sehnsucht und Traurigkeit gemacht ist. Was sich dahinter verbirgt, davon hat man vielleicht einen genaueren Begriff nach der Lektüre von Francisco José Viegas’ Krimi „Schatten der Tiefe“. Der Preis, den man dafür zu zahlen hat, mag hoch sein, ist aber angemessen.
Lissabon 1998. Ein junger Biologe von den Azoren wird ermordet auf dem Gelände der Weltausstellung gefunden, in einem Fischbassin treibend, eines großen Zehs beraubt. Inspektor Jaime Ramos, wegen Unbotmäßigkeit von Porto in die Hauptstadt versetzt, ermittelt. Und bald stören weitere unnatürliche Todesfälle den Ablauf des Spektakels erheblich. Eine mexikanische Kollegin und Geliebte des azorischen Biologen findet ebenso den Tod wie eine Botanikerin, und auf den Azoren selbst wird ein Amerikaner ermordet aufgefunden, der in die Serie zu passen scheint. Die Zeit drängt, die Oberen drängen – kein leichter Fall für Ramos.
Aber ein Kriminalfall, gar kein Zweifel. Warum verliere ich dann aber ganz allmählich das Interesse an seiner Aufklärung? Schön; es geht scheinbar um den „azorischen Drachenkopf“, einen Fisch, dessen Gift als „biologischer Kampfstoff“ genutzt werden kann, so dass sich auch die Amerikaner für diese äußerst rare, vielleicht nur als Mythos existierende Spezies interessieren. Das ist alles sehr verwaschen, und auch die Sache mit dem Video – oder handelt es sich um mehrere? So genau kriege ich das nicht auf die Reihe, und auch welche Rolle die Mexikaner spielen und der tote Amerikaner… aber da liegt das Kind eh schon im Brunnen. Ich lese keinen Krimi mehr, ich lese einen faszinierenden Roman, der mir aus der Sicht des ermittelnden Inspektors Ramos etwas über Portugal erzählt und Fado.
Denn wie Ramos die Welt sieht, ihre Geräusche und Gerüche deutet, das ist durchaus originell, und ich bin bereit, es für typisch portugiesisch zu halten, obwohl es das natürlich nicht sein muss. Im Grunde geht es Ramos wie mir: Der Fall interessiert ihn nicht als Fall. Die Toten interessieren ihn, die Welt, in der sie gelebt haben und gestorben sind, die Atome, aus denen diese Welt besteht.
Und Viegas macht das sehr geschickt. Die Erzählkontinuität wird immer wieder gehemmt, die Geschichte ist ein Tonband, das man vor und zurück spult. Begegnungen werden geschildert, dann erst erfährt man,
welche Bewandtnis es mit ihnen und den Menschen hat, die Ramos auf seine manchmal sehr direkte Art befragt.
Ich gebe zu, dass ich die kriminelle Spannung sehr gerne zu Gunsten dieser – nun, vielleicht ethnopsychologischen aufgegeben habe. So einer wie Ramos mit seiner Sicht der Dinge, seine Abschweifungen und seinem Sichverhaken in scheinbar Abseitiges ist mir schon lange nicht mehr begegnet, und auch ein Autor wie Viegas, der das alles sehr souverän inszeniert, ist wohl so selten wie der azorische Drachenkopf. Der am Ende natürlich eine Rolle bei der Klärung des Falles spielt. Man nimmt sie zur Kenntnis. Aha. So, so. Mehr nicht. Braucht man auch nicht.
Francisco José Viegas: Schatten der Tiefe.
Edition Lübbe 2005, 301 Seiten, 18 €