2006, das Krimijahr. Was war gut, was wird bleiben? Der Rezensent hat seine Arbeiten kritisch gesichtet und elf Titel ausgewählt, denen er die Stempel „unbedingt lesen!“ und „weiter so!“ ohne Zögern aufdrückt, eine Hitparade, die aber keine ist, denn die ausgesuchten Romane lassen sich in thematischen Kleingruppen zusammenfassen, was nun ein zwar unvollständiges, aber über den Listencharakter hinausgehendes Bild des kriminalliteratischen state of the art hierzulande und anderswo ergeben könnte. Und hier ist sie: die Top 11 Zwotausendsechs.
Blicke in die Fremde
→D.B. Blettenberg: Land der guten Hoffnung / →Lena Blaudez: Farbfilter / →Ulrich Schmid: Aschemenschen
Zweimal Afrika im Zentrum krimineller Aktivitäten, einmal, bei Schmid, als dunkler Schatten über zentralasiatischer Wirklichkeit: aber täuschen wir uns nicht. Die Schweinereien kreisen um UNS, die Fäden ziehen WIR. Thematisch, dramaturgisch und sprachlich sind die drei Romane durchaus unterscheidbar, ein jeder auf seine Art gelungen, unpretentiös, moralisch ohne Botschaft, der letzte Satz nicht das Ende, sondern der Auftakt zu den ungeschriebenen Kriminalromanen, die vor der eigenen Haustür spielen.
Krimi?
→Fernando Molica: Krieg in Mirandão / →Joe R. Lansdale: Sturmwarnung
Nichtkrimis. Oder-doch-Krimis. Krimis über die (Gesellschafts-)Ordnungen, die Verbrechen möglich machen (Molica), die geistigmoralische Verkommenheit als Verbrechen (Lansdale). Nichts mehr mit „goldenen Krimiregeln“, nichts mehr mit „Detektion als Herstellung alter Ordnungen“. Die Dinge wie sie sind definieren das Genre, nicht umgekehrt.
Das Innen schafft das Außen, das Außen das Innen
→Andrea Maria Schenkel: Tannöd / →Laura Lippman: Gefährliche Engel
Noch einmal Wirklichkeit. Nein: Wirklichkeiten. Die subjektiven von Menschen, die sich von den alles überspannenden, alles erdrückenden Schablonen des Alltags nicht lösen können, von ihnen geformt werden, sie formen, Teufelskreise. Einmal zutiefst provinz-provinziell bei Schenkel, einmal urban-provinziell bei Lippman. Menschen scheitern an den Milieus, Milieus scheitern an ihren Menschen.
Die Reihen des Jahres
→Norbert Horst: Blutskizzen / →Pentti Kirstilä: Schwarzer Frühling
Dreimal ist jetzt Konstantin Kirchenberg durch seine Welt gegangen und wir mit ihm. Sprache schafft Geschichten, Geschichten schaffen Sprache. Norbert Horst steckt mitten im interessantesten Projekt gegenwärtigen deutschen Krimischaffens. Und Kirstilä? Drei Romane liegen jetzt auch von ihm vor, nachdem man sie uns jahrzehntelang vorenthalten hat. Auch hier: Den entscheidenden Mehrwert liefert die Sprache, die stilsicher Handeln und Denken des Personals miteinander verknüpft. Weiter so.
Meisterwerke
→Robert Littell: Die kalte Legende / →Leonardo Padura: Adios Hemingway
Perfekt. Groß. Leicht, unverkniffen, wahrhaftig. Muss man mehr sagen? Padura spielt mit den Leben, die Littell spielerisch seziert, ohne sie anzutasten. Hier wird auseinandergenommen um zusammenzufügen. Identität ist ein Artikel, den es im Singular nicht mehr zu erwerben gibt. Meisterlich. Wer das nicht gelesen hat, hat das Beste des Jahres versäumt.
Du hast Anobellas Kurzkrimi vergessen! Extrarubrik?
Im „January Magazine“ ist übrigens ganz aktuell ein längeres Interview mit Littell:
http://www.januarymagazine.com/profiles/littell.html
Beste Grüße
bernd
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