Tom Rob Smith: Kind 44

Dass sich aktuell gleich zwei Herren Smith auf der Krimiwelt Bestenliste tummeln und Stalins (Un)Geist beschwören, ist sicher Zufall. Der eine, Martin Cruz Smith, lässt den Diktator durch das heutige Russland irrlichtern; beeindruckend, wie man es von diesem Routinier erwarten darf. Der andere führt uns zurück in die Zeit des noch lebenden resp. soeben verstorbenen Stalin; ein Bürschlein in seinen zarten Zwanzigern ist dieser Tom Rob Smith und beinahe wäre auch ihm ein großartiges Buch gelungen. Beinahe…

Leo Demidow, Offizier des MGB (eine Art „Staatssicherheit“), ist überzeugter Anhänger der Lehren des großen georgischen Führers, ein Bilderbuch-Kommunist und fleißiger Arbeiter im Bergwerk des täglichen Terrors. Dann gerät sein von keinerlei Zweifeln getrübtes Leben aus dem Fugen. Zuerst muss er einem Kollegen ausreden, dessen kleiner Sohn sei bestialisch ermordet worden. Mord nämlich gibt es nicht im Paradies des Sozialismus, schon der Verdacht grenzt an Hochverrat. Und schließlich wird Demidow von einem rachsüchtigen Mitarbeiter in Misskredit gebracht. Man verfrachtet ihn zusammen mit Ehefrau Raisa nach Wualsk im Ural, wo er als unterste Charge bei der Miliz eingesetzt wird. Dort, in der trostlosen Industriestadt, stößt Leo auf weitere Fälle von Morden an Kindern, alle identisch inszeniert. Gegen alle Widerstände nimmt er die Fährte auf und erkennt recht bald, dass hier ein brutaler Killer durchs Land reist und bei jeder Gelegenheit zuschlägt. Der Sohn des Kollegen war „Kind 44“ auf der Liste des Grauens…

Die Geschichte spielt im Jahr 1953, in einer Welt, die von Schrecken und Hunger, Depression und Angst beherrscht wird. Niemand ist sicher, „Abweichler“ werden gnadenlos verfolgt, Denunziationen sind an der Tagesordnung. Smith rekonstruiert diese Hölle durchaus gekonnt, ein „historischer Krimi“ ist das schließlich, einiges an Fakten muss zwangsläufig referiert werden, da man die erforderlichen Detailkenntnisse bei den LeserInnen nicht voraussetzen kann.

Auch die ob der politischen und gesellschaftlichen Situation naturgemäße „Zerrissenheit“ des Personals vermag Smith glaubwürdig darzustellen, was aber – um es ein wenig zynisch auszudrücken – keine große Kunst ist, denn die Sowjetunion des Jahres 1953 konnte gar nichts anderes produzieren als Paranoia. Immer wieder gelingen so Smith eindringliche Schilderungen, etwa von der Hungersnot der dreißiger Jahre, mit der die Geschichte anhebt, von der Hetzjagd auf Homosexuelle, von der alles paralysierenden Angst auch und, als durchgängiges Motiv, von der Pervertiertheit der Verhältnisse, dem staatstragenden Morden, das keine „Privatverbrechen“ neben sich duldet.

Alles ganz ordentlich gemacht, keine Frage, der Mann hat beim creative writing aufgepasst. Man mag die Auflösung des Falls als zu spektakulär und psychologisierend kritisieren, den mächtigen Wunsch des Publikums nach einem Happyend hat Smith aber auch hier zielsicher erfüllt und zugleich den Grundstein einer zu erwartenden Serie um Leo Demidow gelegt. So weit so geschäftstüchtig.

Aber. Wer hat Smith nur eingeflüstert, er müsse alles – und alles meint hier alles – erklären? Wenn etwa Leo von seiner Frau Raisa erfährt, sie habe ihn nicht aus Liebe, sondern aus Angst geheiratet, wird uns dieser im Grunde selbsterklärende Kasus mehrmals haarklein auseinandergesetzt und mit allerhand beigemischten Trivialitäten eingebläut. Dass aus Leo, der kritiklosen Maschine, ein Zweifler wird – die Geschichte selbst erzählt es. Doch leider auch Mister Smith explizit in allen Einzelheiten, so als traue er dem Leser rein gar nichts zu. Das ist ärgerlich. Je weiter man liest, desto automatischer liest man solche Auslassungen einfach nur noch quer oder überschlägt sie ganz.

Fazit: „Kind 44“ ist das Debüt eines durchaus talentierten und geschäftstaktisch cleveren Erzählers, der seiner eigenen Geschichte jedoch permanent misstraut und sie geradezu zwanghaft durch Kommentare abzusichern gedenkt. Intelligenz, Kombinationsfähigkeit und Phantasie der Leser werden konsequent ausgeschaltet, alles muss eindeutig und festgeklopft sein – das ist der Tod der Kriminalliteratur, der Literatur überhaupt. Was sehr schade ist. Man fragt sich am Ende seufzend, was Martin Cruz Smith aus diesem Stoff gemacht hätte und kennt die Antwort nur zu genau.

Tom Rob Smith: Kind 44. Dumont 2008 
(Original: "Child 44", 2008, deutsch von Armin Gontermann).
512 Seiten. 19,90 €

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