Gilbert Adair: Blindband

Was für ein genial heimtückisches Stück Kriminalliteratur! Was für ein Beleg der These, jedes Werk stehe und falle mit der Wahl der erzählerischen Mittel! Was für eine Widerlegung des Dogmas von den „ehernen Gesetzen des Genres“!

Irgend wann muss Gilbert Adair eine Idee gehabt haben; eine, wir werden es noch erfahren, teuflische Idee. Ein früher erfolgloser Schriftsteller hat sich nach einem Autounfall aus der Öffentlichkeit, ja, aus der Welt zurückgezogen. Ihm ist nicht nur sein Augenlicht, ihm sind gleich die Augen selbst abhanden gekommen, auch sonst bietet er einen „hässlichen Anblick“, schwerster Brandverletzungen wegen. Dann beschließt der Autor, seinen Lebenserinnerungen aufzuschreiben, ausgehend von dieser Blindheit / Augenlosigkeit, diese philosophisch durchdringend, auf die Existenz selbst hochrechnend. Was er nun braucht, ist ein Sekretär, der ihn mit Informationen über die Welt versorgt und einen Computer bedienen kann. Er findet ihn leicht. Nicht sehr helle will uns der Bursche vorkommen, ein wenig devot ist er zudem. Aber Autor und Sekretär raufen sich rasch zusammen, die Arbeit kann beginnen.

Soweit die Idee. Als nächstes dürfte sich Adair überlegt haben, wie er die Geschichte erzählt. Aus der Ichperspektive eines der beiden Protagonisten? Aus der zentral-distanzierten des Autors? Mit Perspektivwechseln? – Adair hat all dies verworfen und sich dafür entschieden, die Geschichte überhaupt nicht zu erzählen. Statt dessen wählt er die Form des Dialogs, wir hören genau das, was der blinde Autor auch hört, von der Welt wahrnimmt. Unterbrochen wird dies nur durch einige Selbstreflexionen, „innere Monologe“, glaubt man.

Das Ganze ist also ein Hörspiel ohne Nebengeräusche, die perfekte konstruktionstechnische Adaption des Szenarios selbst. – Und natürlich gleich ein Fauxpas. Denn es ist ja kein Hörspiel, es ist ein ROMAN, dem für gewöhnlich andere Mittel zur Verfügung stehen, aber eines keinesfalls: die direkte Wiedergabe der menschlichen Stimme mit all ihren Tonfällen. Das bleibt dem Hörspiel vorbehalten. Eines jedoch haben Roman und Hörspiel gemein: Sie zwingen uns zur Bildproduktion. Wir sehen nicht mit den Augen, sondern der Imagination.

Autor und Sekretär beginnen also mit der Arbeit – und dem Leser will scheinen, Adair lege es darauf an, seinem Krimigenreprodukt auch noch den letzten Rest „Spannung“ auszutreiben. Der Autor diktiert, der Sekretär tippt. Der Autor fordert den Sekretär auf, ihm das Geschriebene noch einmal vorzulesen. Der Sekretär liest vor. Wir lesen / hören mit. So etwas nennt man Redundanz und verabscheut es nicht nur in Krimis.

Ja, und WAS der Autor da diktiert! Höchst philosophisches Gedankengut ist das, durchaus bedenkenswert, manchmal ein wenig überkandidelt. Wollen wir das wirklich lesen? Ist es für die Handlung von Bedeutung? Oh ja.

Aber was heißt „Handlung“. Nichts Krimimäßiges geschieht zunächst, kein Mord, rein gar nichts. Dass irgend etwas „nicht stimmt“, ahnen wir wohl. Aber wir „sehen“ es noch nicht. Das ändert sich irgendwann. Der Sekretär nämlich nimmt es mit seinen Informationen nicht immer so genau. Spätestens als er Tony Blair zum Aidskranken macht, betrachten wir das Ganze als Witz, als Satire auf die Naivität der Informationsgesellschaft, die glaubt, rundum und erschöpfend mit der faktischen Wahrheit versorgt zu sein, aber doch so blind ist, dass man ihr jedes X für ein U vormachen kann.

Witzig. Ja. Und dann wird es plötzlich ernst. Dann kriegen wir auch unseren Mord. Etwas ganz anderes ist jedoch wichtiger: die Fallhöhe. Wir stürzen aus den Höhen philosophischer Reflexion ungebremst in den dreckigsten Morast. Und haben gelernt, weder unseren Augen noch unseren Ohren wirklich zu trauen. Denn auch die Geschichte mit dem Hörspiel ist so ganz rein nicht.

Gilbert Adair demonstriert in „Blindband“, wie das so ist mit den Gesetzen. Sie sind keine eindeutige Gebrauchsanweisung, sie wollen interpretiert, ausgelegt werden. Auch im Genre Krimi. Alfred Hitchcock jedenfalls (den Adair ja in „Ein stilvoller Mord in Elstree“ so herrlich durch den Kakao gezogen hat) hätte seine Freude an diesem Buch gehabt – und wir LeserInnen haben sie garantiert. Denn wer so viel „falsch“ macht, muss am Ende vieles richtig gemacht haben.

Gilbert Adair: Blindband 
(„A Closed Book“, 1999, deutsch von Thomas Schlachter, deutsche EA 1999).
239 Seiten. 18,90 €

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert