Sicher: andere Meinungen sind nicht nur zu respektieren, man muss sie sogar begrüßen, vor allem bei der Beurteilung literarischer Texte. Kritisch betrachten darf man sie dennoch und auf ihre Basis abklopfen, das also, was einem Urteil zugrundeliegt. Auch hier darf man anderer Meinung sein.
→Axel Bussmer hält Norbert Horsts „Sterbezeit“ für misslungen. Okay, soll er. Aber wie begründet er das? Ganz simpel: Er sieht die Genrekonventionen verletzt. Die was? Die Genrekonventionen. Wer hat die postuliert? Ich weiß es nicht. Axel Bussmer auch nicht, denn er nennt keine Urheber. Also gehe ich davon aus, Axel Bussmer selbst hat die Genrekonventionen festgeschrieben. Denen zufolge ist „Sterbezeit“ „ein Roman, der den unsichtbaren Vertrag zwischen Erzähler und Publikum verneint“. Ich bezweifele, dass ein Vertrag, der unsichtbar ist, irgendwo Gültigkeit haben kann und bin skeptisch, ob sich Verträge überhaupt „verneinen“ lassen. Einhalten, brechen, ignorieren ja. Verneinen?
Gut. Was ist das für ein Vertrag? „Dieser Vertrag besagt, dass der Erzähler am Ende eine Lösung für die von ihm eingangs aufgeworfene Frage liefert“. Sprich: Er muss den Fall aufklären und den Täter seiner gerechten Strafe zuführen. Aber wo hat Norbert Horst überhaupt „eine Frage aufgeworfen“? Er erzählt uns von Kriminalfällen und den Anstrengungen, sie aufzuklären und, nach Möglichkeit, die Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen. Das kann, muss aber nicht gelingen, und in „Sterbezeit“ gibt es gute Gründe, warum es gar nicht gelingen kann. Das beschreibt Horst. Er gestattet es seinem Protagonisten, sich „der Wahrheit“ so weit zu nähern, wie man sich ihr nähern kann, nicht mehr und nicht weniger. Kein aufmerksamer Leser wird behaupten können, der Lösungsvorschlag des Protagonisten sei zu bemängeln. Wahrscheinlich hat er Recht, auch wenn die letzte Gewissheit fehlen muss.
Axel Bussmer sieht das gänzlich anders Für ihn löst der Autor „ein gegebenes Versprechen nicht gänzlich ein, sondern beendet das Buch einfach, indem er seinen Ich-Erzähler vage eine Vermutung äußern lässt, wer der Täter sei“. Frage: Wie kann jemand, der einen „Vertrag verneint“ hat, ein dort anscheinend „gegebenes Versprechen“ nicht einlösen? Entweder er hat sich nicht um irgendwelche Verträge gekümmert, dann kann er auch nichts versprochen haben. Oder er hat etwas versprochen, dann kann er keinen Vertrag „verneint“ haben. Dass der Ich-Erzähler nicht einfach eine Vermutung äußert, sondern der Aufklärung so nahe kommt, wie es ihm die äußeren Umstände erlauben, wurde schon erwähnt.
Dies bezeichnet Bussmer nun als „Verstoß gegen die Genrekonventionen“. Bezweifeln wir schon das, so sträuben sich uns bei der in Parenthese gesetzten Ergänzung und Ausweitung „(und die Konventionen des Erzählens von Geschichten)“ die wenigen verbliebenen Haare. Auch hier zunächst die Frage: Welche Konventionen? Wer hat sie aufgestellt? Und welche Versprechen müssen beim Erzählen von Geschichten eingelöst werden? Welche Verträge eingehalten?
Apropos Verträge: Die beruhen, wenn ich mich recht entsinne, immer auf Gegenseitigkeit. Es gibt zwei Parteien, die sich zu etwas verpflichten und im Gegenzug dafür Rechte erwerben. Nicht so bei Bussmer, nicht so beim „Genre“. Hier verpflichtet sich lediglich der Autor, vom Leser ist die Rede nicht. Er hat Rechte, aber keine Pflichten, und sein Recht besteht darin, durch nichts überrascht zu werden, seinen Denkapparat schonen zu dürfen, nicht von Entwicklungen jedweder Art irritiert zu werden. „Sterbezeit“ sei „Zeitverschwendung“, behauptet Bussmer, „genau wie ein Agatha-Christie-Roman, bei dem die letzten Seiten fehlen“. Und genau das ist es: Ginge es nach Bussmer, hätte die Kriminalliteratur seit Agatha-Christie aufgehört, sich zu entwickeln. Sie wäre vorhersehbar wie ein Kreuzworträtsel, affirmativ, sie hätte in lesenden Gehirnen die einzige Funktion, die dort scheinbar vorhandene überschüssige Zeit zu eliminieren. Nichts sonst.
Hoffen wir, dass Bussmers Vorstellungen von Kriminalliteratur Bussmers Vorstellungen von Kriminalliteratur bleiben und nicht etwa zur „Konvention“ werden. Man müsste das Lesen von Literatur sonst nämlich glatt einstellen.
Boing!
Nun, zum Beispiel Jeremiah Healy (mehrere Shamus-Nominerungen) schreibt in dem sicher etwas ironischen Beitrag „The Rules and how to bend them“:
The first rule of mystery writing can be stated simply: The plot is everything. All other aspects of the book must be slaves to the story line. A solid reason behing this rule is that most readers come to a mystery because the genre promises an actual story, a characteristic that many find lacking in so-called mainstream fiction, Also, many readers truly want a tale in which the problem is resolved and the guilty party is punished, a disposition that is sadly lacking in many real-life bad acts. Given the reasons behind this rule, I would not try to bend it.“
Ein Autor verspricht mir am Anfang seiner Geschichte, dass es sich lohnt die kommenden Stunden mit ihm zu verbringen. Also investiere ich Zeit in dieses (und nicht in ein anderes Werk).
Dabei kann auch die Geschichte (Held will unbedingt ein Problem lösen) eines Scheiterns erzählt werden. Aber auch das tut Horst nicht. Er bricht das Buch ab, bevor die Ermittlungen beendet sind.
Norbert Horst, Sterbezeit!
schlägt sich gegen die Stirn, bestellt
**liest Krimis auf!
Falsch, Axel. Horst(respektive sein Kommissar) bricht das Buch nicht ab, bevor die Ermittlungen beendet sind. Er KANN sie aus „natürlichen Gründen“ nicht weiterführen. MIR hat Horst übrigens gar nichts versprochen. Ich möchte zudem den Autor sehen, der mir am Anfang einer Geschichte erzählt, es lohne sich nicht, sie weiterzuverfolgen.
bye
dpr
„Ich weiß es nicht, Frau Weber, deshalb wollte ich das Gespräch NOCH nicht führen,…“ (S. 276 unten)
„ich glaube“ (S. 277 mitte) sagt der Kommissar. Gerade der erste Satz „noch nicht führen“ sagt doch, dass er noch nicht am Ende seiner Ermittlungen ist. Er äußert eine Vermutung, einen Ermittlungsansatz.
Lieber Axel, Hand aufs Herz: Bezweifelst du nach dem Stand der Ermittlungen, dass Kirchenberg richtig liegt? Kirchenberg will dieses Gespräch übrigens gerade deshalb nicht führen, weil es nur mit Spekulaton enden würde. Mit der eigentlichen Beweislage hat es nichts zu tun. Er kommt nicht weiter (die Gründe dafür kennst du), wird es auch niemals. Es ist für den Text völlig unbedeutend, ob uns der Autor nun quasi eine Garantieerklärung darüber abgibt, dass X. der Mörder ist. Wozu soll das gut sein? Ich lese doch keine Kriminalromane, um mir für fiktive Fälle „Aufklärungen“ bescheren zu lassen.
bye
dpr
Warum denn?
Je nun, weil ich Dinge kennenlernen will, die ich ohne Literatur nicht kennenlernen würde. Zum Beispiel. Gut erzählte Geschichten, vertrackte Plots, überhaupt alles, was man mit Wörtern und Worten hinkriegt. Das kann Kriminalliteratur, doch, doch. Ich lese indes keine Krimis, weil gerade kein Kreuzworträtsel zur Hand ist. Oder weil ich unbedingt wissen möchte, ob der nette Herr Studienrat in seiner Freizeit kleine Mädchen schlachtet. Ich verachte ja gar nicht die Whodunit-Spannung. Aber wenn das alles ist, wäre mir nach den geschätzt 2.498 Vertretern dieses Typus, die ich schon gelesen habe, die Sache inzwischen ziemlich fad geworden.
bye
dpr
IMO darf Axel seine Kritik damit begründen, dass er von dem Buch enttäuscht ist, weil der Täter nicht ermittelt wird. Vielleicht ist seine Metapher eines unsichtbaren Vertrags zwischen Erzähler und Leser ein wenig schief, aber gibt es nicht tatsächlich bei vielen Lesern die Erwartungshaltung, dass ein Kriminalroman ein Roman über ein Verbrechen und dessen Aufklärung ist? Axel benennt seine Kriterien und begründet damit sein Urteil. Das ist in Ordnung, wenngleich ich mit ihm weder bezüglich der Kriterien noch dem Urteil übereinstimme.
Ob ein Polizeiroman zwangsläufig am Ende einen Täter ermitteln und diesen einer Bestrafung zuführen muss, entspricht nicht meinem Verständnis von Polizeiroman. Ein Polizeiroman ist für mich auch immer ein Stück weit Gesellschaftsroman und insofern entspricht es durchaus meiner Lebenserfahrung, dass ein Täter auch mal ungestraft davon kommt. Im Gegenteil – ich sehe eine interessante Entwicklung des Autors, wenn er im vorletzten Roman – wie Axel schreibt – „den Täter zwar ermittelt, aber (dann) entkommen (lässt) und im neuen Roman sogar die Überführung des Täters verweigert. Das macht mich sehr gespannt auf den nächsten Roman von Norbert Horst.
Lange Rede, kurzer Sinn: mir gefällt die Regelverletzung des Autors und der Roman wird deshalb von mir gelobt!
So ist es. Axel benennt seine Kriterien und begründet sein Urteil damit. Die Frage muss aber lauten: Was für Kriterien sind das? Von wem kommen sie? Axel stützt sich auf etwas, das es m.E. gar nicht gibt, nämlich „einen Vertrag“. Er möchte nicht, dass „Genrekonventionen“ verletzt werden, was sein gutes Recht ist. Was sind aber Genrekonventionen? Es sind im Grunde statistisch ermittelte Phänomene. Wenn in 99,9 % aller Krimis mindestens ein Mord geschieht, dann ist Mord eine Genrekonvention. Nur: Darf ich dann auch von den übrigen 0,1 % verlangen, ebenfalls einen Mord geschehen zu lassen? Es gibt eine Erwartungshaltung, richtig. Die aber ist alleine Sache des Lesers, das ist SEIN Risiko. Wenn die Erwartungen nicht erfüllt werden und der Leser enttäuscht ist, hat er zum falschen Buch gegriffen. Dafür kann er den Autor nicht verantwortlich machen und irgendwelche „Verträge“ bemühen.
bye
dpr
Ich glaube auch nicht an einen Vertrag, ob sichtbar oder unsichtbar. Weder sollte der Autor einen solchen Vertrag mit dem Leser eingehen – wo kommen wir dahin? er möchte bitte dahin schreiben, wohin der Text ihn trägt – noch mit sich selbst. Natürlich gibt es Autoren, die der Zielgruppenerwartung entsprechend schreiben. Die kann man suchen und finden. Andere sollte man nicht damit malträtieren, dass sie nicht das halten, was sich der Genreleser verspricht. Bei einem Autor wie Wolf Haas sieht man schon auf der ersten Seite, dass er nicht für die Zielgruppe schreibt. Kein einziges seiner Bücher wäre entstanden, wenn er zielgruppengerecht geschrieben hätte. Na und? Seine Bücher sind Kult. Auch andere Autoren würden nur lachen, wenn einer käme und sagt: Schreib dein Buch doch bitte so, dass es bei mir hinpasst. Der Autor hat keinen Vertrag mit dem Leser. Er findet seine Leserschaft oder er findet sie nicht. Das ist das Risiko des Autors, der sich beim Schreiben nicht an Zielgruppen orientiert. So entstehen außergewöhnliche Bücher. Die sich mal besser, mal schlechter verkaufen.
So wie das bei euch klingt, schreibt der Autor halt einfach was ihm gefällt und er wirft es dann auf den Markt.
Wenn es dem Leser nicht gefällt, ist es halt sein Problem, weil er die falschen Erwartungen (Uh, vielleicht sollte er sich sogar von allen Erwartungen befreien und sich von dem Text einfach überraschen lassen. Also kein Blick auf das Titelbild, Klappentext und Titel.) hatte.
Dagegen denke ich, dass ein Autor, wenn er ein Buch veröffentlicht sich an ein Publikum wendet (Schließlich schreibt er kein Tagebuch für den privaten Gebrauch. Er macht auch keine Schreibübungen.) auch gewisse Verpflichtungen eingeht. Immerhin will er mit seinen Produkten Geld verdienen.
Und dann sind wir schnell bei Erwartungen des Publikums, das ihn dafür bezahlt. Wenn ein Autor dann Genreliteratur schreibt (und der Verlag das Buch richtig bewirbt), sind diese Erwartungen spezifischer als bei Mainstream-Romanen. Deshalb sollte ein Autor sich überlegen wann er warum die Erwartungen der Leser enttäuscht – und ihnen so (vielleicht) ein größeres Geschenk macht.
Aber lieber Axel, der Krimimarkt wimmelt doch nur so von AutorInnen, die die „Lesererwartungen“ erfüllen! Warum willst du partout, dass jeder nach Schnittmuster schreibt, nichts riskiert, nichts ausprobiert? Warum strafst du Norbert Horst dafür ab? Was du propagierst, ist der reine Mainstream, die Abfütterung der Krimilesermassen. Ich hab ja nix dagegen. Nur ist es problematisch, mit Hilfe sogenannter „Verträge“ und „Konventionen“ und „Erwartungen“ alles zu diskreditieren, was auch nur eine Handbreit von der Spur abweicht.
bye
dpr
Kannst Du bitte mal mitteilen, wo sich Deine Rezension zu „Sterbezeit“ befindet?
Weder in Deiner Suche noch bei Google konnte ich einen Verweis finden.
Henny
Da verweise ich an „wtd – die Zeitschrift“ und die dortige Nummer vier. Oder direkt zum Word-Dokument: →hier.
Hallo Dieter,
nein, „Sterbezeit“ hat neben dem Ende (mit dem ich leben könnte, wenn der Rest gut wäre; das Ende war nur der letzte Nagel am Sarg) noch weitere Probleme und ich plane dazu nächste Woche auch einen Post. Es sind die unbefriedigenden Subplots und die damit zusammenhängenden mangelnden Konflikte bzw. dramatische Fallhöhe.
Ich habe gestern mal eine Liste aufgestellt, von Krimis (Buch und Film), in denen der Täter des Hauptplots am Ende nicht geschnappt wird, dessen Schuld klar ist und der nicht der Sympathieträger (wie zum Beispiel Hannibal Lector am Ende von „Das Schweigen der Lämmer“) ist.
Die Liste ist sehr kurz (ein Bülow-, ein Trimmel-Tatort, G. M. Fords letzter Corso-Roman und, mit Abstrichen, Rex Millers „Fettsack“ (wobei hier der Killer fast schon „sympathisch“ ist, am Ende starb und später für weitere Romane wieder zum Leben erweckt wurde).
Dann habe ich überlegt, ob in welchen Geschichten am Ende nicht nur der Täter ungestraft davon kommt und auch dessen Schuld zweifelfhat ist (weil es mindestens einen zweiten möglichen Täter gibt). Da fiel mir nichts ein.
Ich denke es gibt einen guten Grund, weshalb auch Autoren, die die Genreregeln dehnen (z. B. James Sallis, Ken Bruen, David Peace, Pete Dexter George Pelecanos, James Lee Burke, alles was mir aus dem Unionsverlag/Metro einfällt), diese Regel nicht brechen.
Und nur weil ein Autor etwas neues probiert, muss es nicht gut sein.
Grüße
Axel
Siehst du, da kann ich dir helfen, Axel. Ein Krimi, in dem BEIDES geschieht, wird hoffentlich 2009 erscheinen…Klar muss nicht alles, was neu ist, gut sein. Was Norbert Horst in „Sterbezeit“ vorexerziert, ist immerhin „authentisch“, weil ja im wirklichen Leben auch mancher Fall nicht zweifelsfrei geklärt wird, resp. der Täter „davonkommt“ (was in „Sterbezeit“, wie du weißt, einen besonderen, nachvollziehbaren Grund hat). Alle anderen Einwände bleiben dir selbstverständlich unbenommen. Warum ich den gesamten Text für thematisch aus einem Guß halte, habe ich in meiner Rezension ausführlich dargelegt.
bye
dpr
Ach so: Michael Collins, „Tödliche Schlagzeilen“. Kein Täter – und der kommt auch noch davon!
bye
dpr