Es gibt keine guten und schlechten Bücher, es gibt nur gute und schlechte Leser. Boah! Ducken! Er wird doch nicht wieder… Nein, nein, wir bleiben friedlich. Und wiederholen es dennoch: Es gibt keine guten und schlechten Bücher. Es gibt nur gute und schlechte Leser.
Erlauben Sie mir, in meiner eigenen Leserbiografie zu kramen und drei Beispiele herauszufischen, abzustauben und als Belege der These zu präsentieren. Ich bin mir fast sicher, fast jeder hat diese oder ähnliche Erfahrungen auch schon sammeln können.
Meine erste ernsthaft Konfrontation mit dem, was man so „gute Literatur“ nennt, fand in pubertären Hochzeiten statt, mit 14, mit 15. Mir fiel Heinrich Bölls „Ansichten eines Clowns“ in die Hände, und ich liebte dieses Buch. Ein Außenseiter, eine tragische Liebe, die Beschreibung der adenauerianischen Nachkriegsgesellschaft mit ihren Verdrängungen, Leichenkellern, Bigotterien. Das traf, wie man so sagt, einen Nerv. Ich habe das Buch innerhalb kurzer Zeit mehrmals gelesen (2x? 3x? 4x? Mein Gedächtnis rätselt.), dann eine Zeitlang nicht mehr, weil anderer Stoff auf mich wartete, denn „Ansichten eines Clowns“, dieses Verdienst bleibt ihm auf ewig, hat mich in die „anspruchsvolle, engagierte Literatur“ hineingezogen. Dann wurde Heinrich Bölls Roman Schullektüre. Und ich begann das Buch zu hassen, ja, zu hassen. Der Schuldige war schnell gefunden, er trug den alltäglichen Namen XXX, Oberstudienrat oder noch höher. Wie da das Buch auseinandergenommen wurde! Interpretiert! Es war nicht zum Aushalten! DAS sollte in „Ansichten eines Clowns“ stehen? – Ich opponierte, aber nicht lang, dann wars mir einfach wurscht.
Erst viel später, als ich „Ansichten eines Clowns“ noch einmal las, wurde mir klar, dass den guten Oberstudienrat nur einen Teil der Schuld traf. Den anderen musste ich bei mir selbst suchen. Ich fand nämlich „Ansichten eines Clowns“ nur noch ärgerlich, mindestens so verlogen wie die Gesellschaft, die es angeblich zeichnete, dazu stilistisch und dramaturgisch höchst bescheiden, mit Stellen unfreiwilligen Humors, vor allem dort, wo es um „Erotik“ ging. Ich muss also in meiner Jugend ein „schlechter Leser“ gewesen sein, einer, der das Buch schlichtweg zum falschen Zeitpunkt in die Hände bekommen hat. Oder war ich damals ein „guter Leser“ und wurde erst später zum schlechten?
Zweites Beispiel. Vor einigen Wochen besprach ich „Nächtliche Vorkommnisse“ von William Gay. Ein nach meiner festen Überzeugung total missratenes Buch, stilistisch wie dramaturgisch wie inhaltlich. Nicht einmal Joe Lansdale für arme Leute. Kurze Zeit später steht „Nächtliche Vorkommnisse“ auf der Krimiwelt-Bestenliste. Ziemlich weit hinten, aber immerhin. Die Kritiken sind wohlwollend bis preisend. Huch? Was ist denn da passiert? Habe ich mich geirrt oder muss ich das hübsche Bild von den 100 Millionen Fliegen respektive 20 Kritikern bemühen, die da nach Atzung lechzend um den Kuhfladen brummen?
Ja, ich weiß, jetzt kommt der Standardeinwand: Die Geschmäcker sind halt verschieden. Aber diejenigen, die da gelesen haben und zu diametralen Ergebnissen kamen, sind doch EXPERTEN, manche Wissenschaftler gar, die das studiert haben. Es muss doch Kriterien geben, nach denen man…
Gemach. Natürlich gibt es Kriterien. Sie haben nur den bedauernswerten Nachteil, genauso deutbar zu sein wie die Texte, die sie zu deuten haben. Das nennt man Geisteswissenschaft, und die lebt intern davon, sich durch diverse Sprachregelungen und ein eigenes Vokabular (das von Nichtwissenschaftlern in der Regel nicht verstanden wird und deshalb verpönt ist) ein Koordinatensystem zu schaffen, in dem so etwas wie „objektive Beurteilung“ gewährleistet sein soll (ich spreche jetzt nur vom „Auslegungspart“ der LitWiss) . Aber das ändert nichts daran, dass man zu völlig unterschiedlichen Bewertungen kommt. Nicht weil das Buch gut / schlecht oder der Leser gut / schlecht wäre, sondern einfach deswegen, weil es keine Geisteswissenschaft mehr wäre, ließen sich Bücher nach einem festgelegten und allgemein gültigen Regelwerk erforschen wie jeder xbeliebige Grippevirus. Ja, Literatur, die sich solchermaßen beurteilen ließe, wäre auch keine Literatur mehr. Andererseits: Es gehört zur Beurteilung von Literatur auch dazu, sich zu streiten. Manchmal erbittert, manchmal unerbittlich. Oder würden Sie die Behauptung, die Erde sei eine Scheibe, mit einem Schulterzucken quittieren?
Hier hilft uns also die bewährte „gut / schlecht“ – Dichotomie nicht weiter. Das mindestes, was ich von einer Literaturwissenschaftler erwarte, ist die handwerkliche Befähigung, auf Zuruf JEDES literarische Werk nach Belieben „positiv“ oder „negativ“ zu beurteilen. Das heißt nämlich, dass er sein Handwerkszeug zusammen hat.) Wenn einige Krimiwelt-Bestenliste-Juroren „Nächtliche Vorkommnisse“ ihrer eindringlichen Sprache wegen loben mögen, mir selbst aber diese Sprache in ihrer ganzen Verschraubtheit eher Magenschmerzen bereitet, dann müssten wir uns über Sprache als solche unterhalten. Was sie leisten soll, wie sie abhängig ist vom Erzählten usw. Hier würde sich das „Ich habe recht, du also nicht“ nun vollends vom Gegenstand und dem Gut/Böse-Schema lösen, denn das Buch, sei es nun gelungen oder nicht, wäre per se „gut“, weil es uns Leser zu tiefergehenden Gedanken nötigt. Ein schlechter Leser wäre in diesem Fall einer, der sich diese Gedanken nicht machen möchte, obwohl er es könnte.
Womit wir beim dritten, sehr heiklen Beispiel wären, der von mir ja schon leserbeschimpfend auseinandergenommenen Stieg – Larsson – Trilogie. Denn – und hier kurz zurück zu Böll – nicht nur die Einstellung zu einem Buch ist anscheinend lebensalter- und entwicklungsabhängig, auch das Wissen über Literatur nimmt, hoffentlich, mit den gesammelten Leseerfahrungen zu. Wenn ich einfach nicht weiß, wie sich „Krimi“ entwickelt hat, welche Muster sich herausbildeten, welche Bausteine es gibt, die sich legomäßig auftürmen lassen, dann mag ich in den Larsson-Büchern tatsächlich die allerorten euphorisch gepriesene „Qualität“ entdecken. WENN ich es aber weiß – und zu Wissenschaft gehört dieses Wissen unabdingbar dazu, es gehört zu jenem Part, den man den „objektiven“ nennen könnte, und selbst als begnadeter Deuter von Literatur muss ich an Kriminalliteratur scheitern, wenn ich außer „den Klassikern“ nichts kenne – dann gehört es zu meinen Pflichten, den Larsson-Lesern klipp und klar zu erzählen, welchen Monstren von Versatzstück-Babeltürmen sie da huldigen. Gut, ich hätte das auch konzilianter tun können. Aber es stinkt mir manchmal, wie „kultiviert“ hier die Kritik vorgeht. Die perfideste Form der Leserbeschimpfung ist meines Erachtens dieses „Sollen sie halt ihren Mist lesen, was kümmerts mich“.
Es gibt keine guten und schlechten Bücher. Es gibt nur Bücher. Sie erzählen uns etwas und warten darauf, dass es zum bekannten Lichtenbergschen Szenario kommt, in dem Buch und Kopf des Lesers gegeneinander schlagen. Es gibt nur gute und schlechte Leser. Bei den schlechten erzeugt dieses Gegeneinanderschlagen einen hohlen Klang. Bei den guten Lesern einen vollen. Selbst dort, wo wir an einem Buch kein gutes Haar lassen können, denn schon die Tatsache, DASS wir das nicht können, erhöht unser Wissen. Wir mögen Bücher zum falschen Zeitpunkt lesen, wir mögen bei der Beurteilung vom Katheder herab etwas aus dem Blick verlieren, wir mögen mit dem, was wir wissen könnten und müssten, im Rückstand sein – das Lesen selbst ist eine niemals unnütze Arbeit, aber es ist eben – Arbeit. Wenn sie uns dazu noch vergnügt, dann wissen wir vollends, was wir da vor uns haben: Literatur.
(Anmerkung: Da dies ein Feiertagstext ist, ist es wahrscheinlich auch der Freitagstext. Aber vielleicht fällt mir morgen im Lauf des Tages doch noch etwas ein. Jedenfalls: Krimikultur. Interessieren Sie sich dafür. Das ist der erste Schritt. Teilen Sie →mir einfach mit, DASS Sie sich dafür interessieren.)
Tatsächlich lohnt es sich – und das ist eine weitere Möglchkeit, dem Dilemma des singulär vielleicht attraktiven Textes zu entkommen – eine halbe Stunde mit einem Cormac McCarthy-Buch zu verbringen, dann zu William Gay zurückzugehen, um zu sehen, wie geschraubt und letztendlich hohl sein Schreiben tatsächlich ist.
… was dann vorbildlich zeigt, dass jedes Buch nur so gut ist wie sein Leser. Ich lese eines, das ich für schlecht halte, greife deshalb zu einem, das ich für gut halte und weiß hernach, warum ich das andere für schlecht halte. So sammelt man wertvolle Erfahrungen mit Hilfe dieses „schlechten“ Buches.
bye
dpr