Guido Westerwelle hat einen wunderbaren Krimi geschrieben (wir stellen uns das mal vor, obwohl es schwerfällt). Würden Sie deshalb in Zukunft FDP wählen? Oder, weil Ihnen der Mensch Westerwelle völlig unsympathisch ist, seinen Krimi überhaupt gar nicht lesen? Hypothetische Fragen. Aber im Kern doch solche, die unser Leseverhalten entscheidend prägen können. Denn hinter jedem Text steckt eine Person, und manchmal steckt sie im Text selbst. Was uns für gewöhnlich nicht interessiert, es sei denn, wir glauben diese Person zu kennen. James Ellroy zum Beispiel.
Ellroy macht es einem nicht schwer. Er ist ein arrogantes, größenwahnsinniges Arschloch, ein Muhammad Ali der Kriminalliteratur, bloß nicht so witzig, ein wahlweise Angeber oder Psychopath, obsessiv, nervig, anmaßend. Das alles jedenfalls in der Selbst- und Fremddarstellung. Nun geb ich gerne zu, dass ich arrogante Arschlöcher ganz gerne mag. Sie sind mir jedenfalls lieber als die furchtbar Mediokren, die plakativ Bescheidenen, das Reissbrettgesox, hinter dessen Nicht-Attitüden eine Art „mediales Konzept“ lauert. Doch, ich mag das. Aber nur wenn dieser autobiografischen Großkotzigkeit adäquate literarische Taten folgen.
Man ahnt es aber: So einfach ist es nun doch nicht. Reden wir gar nicht über die oft gemutmaßte Kongruenz von Autor und Protagonist (das heißt: reden wir doch, aber später), reden wir zunächst über den Autor als empirisches Wesen. Was wissen wir von ihm außer den Lebenslauf-Eckdaten? Die Antwort: nichts. Autoren sind, wie viele andere Menschen auch, Inszenierungen, aber eben besondere Inszenierungen. Sie stehen zwischen der anonymen Empirie und dem öffentlichen Werk, für das sie unabdingbar sind.
Aufgefallen ist mir das vor vielen Jahren, als ich mich mit dem Werk Arno Schmidts beschäftigte, dem deutschen Musterbeispiel für dieses merkwürdige Konstrukt. Schmidt, für alle, die es nicht wissen, hat in seinen Texten so explizit damit kokettiert, er sei mit seinem Ich-Protagonisten identisch, dass sich die Forschung mit Vehemenz darauf stürzte und fortan munter den Menschen, den Autor und den Ich-Erzähler miteinander vermengte. Mit teilweise bizarren Ergebnissen. Wem der scheue Autor im wirklichen Leben einmal begegnet war, schilderte ihn als schulmeisterlich, abweisend, politisch eher konservativ – und fand sich im Werk bestätigt. Auf die Idee, dass es genau andersrum sein könnte, die Charakteristika des Ich-Erzählers das Bild des „empirischen Arno Schmidt“ bestimmte, kamen nur wenige. Da ich mich damals auch intensiv mit Schmidt beschäftigte, habe ich mir ein eigenes Muster erarbeitet, um die Zusammenhänge in den Griff zu bekommen. Es gibt ein empirisches Ich, das ein Autor-Ich inszeniert und über diese Schaltstation Teile dieses empirischen Ich in die Texte transportiert. Man kann es sich wirklich wie eine Maschine vorstellen, jedoch mit der Einschränkung, dass dieser Transportweg nicht mehr zurückzuverfolgen ist. Ich kann also vom Ich-Erzähler nur bedingt auf die Autorinszenierung und überhaupt nicht auf den empirischen Menschen schließen.
Dieses System war weder perfekt noch auf Dauer tragfähig. Dennoch halte ich es im Prinzip für hilfreich, weil es uns die Möglichkeit eröffnet, unser Verständnis von Literatur von etlichen Vorurteilen, die wir dem Autor gegenüber hegen könnten, zu entkoppeln und wenigstens im Ansatz zu verstehen, warum Egomanie und Arroganz zur Autorschaft gehören. Nicht bei allen, aber bei vielen. Ellroy steht hier pars pro toto, ein offensichtlicher und klarer Fall.
In „Blut muss fließen“ begegnen wir Donald Crutchfield, kurz Crutch genannt. Lange Zeit ordnen wir ihn, was die Bedeutung seiner Funktion innerhalb des Textes betrifft, eher im Mittelfeld ein, unter den Hauptfiguren, ein zwar wichtiges, aber für das Verständnis des Buches nicht ganz so bedeutendes Bindeglied, einer, durch den die Handlung vorangetrieben wird, das ja, mehr nicht. Je weiter wir lesen, desto klarer wird indes: ein Irrtum. Crutch ist DIE Hauptfigur.
Was erfahren wir über ihn? Er ist Anfang, Mitte Zwanzig, man nennt ihn „Mistkerlchen“, „Spanner“ – und das aus gutem Grund. Er beobachtet Frauen aus der Distanz und hat den für seine Obsession idealen Beruf als Detektivgehilfe, der untreue Ehemänner und –frauen mittels allerlei Überwachungstechniken überführt. Crutch ist ein Künstler der Recherche, davon besessen. Was ihn interessiert sind ältere Frauen, er möchte alles über sie wissen und stolpert dabei in die eigentliche Handlung des Buches, einen wahren Abgrund von Komplott und organisiertem Verbrechen. Crutch steht einigemale davor, vom Erdboden vertilgt zu werden wie eine lästige Laus, der Leser sagt ihm kein langes Leben voraus – und täuscht sich auch darin gewaltig. Während der Autor Ellroy nach und nach und sehr genüsslich sein Personentableau leerräumt, hält sich Crutch über Wasser, und am Ende wird klar, warum das so sein muss. Donald Crutchfield nämlich, Mistkäferchen und Spanner, ist nicht nur die Hauptfigur des Romans, er ist auch ihr Autor. Er ist James Ellroy selbst.
Daran jedenfalls lässt Ellroy keinen Zweifel, und auf den letzten Seiten bekennt er sich offen dazu. Ellroy hat diverse Male betont, wie besessen er von Frauen sei, kaum ein Interview, das dieses Detail aussparte. Das korrespondiert mit Crutchs Spannertum, das wiederum darauf zurückzuführen ist, dass ihn seine Mutter früh verlassen hat und sich jetzt nur noch zu Weihnachen mit einer Karte und einem Fünfdollarschein aus allen möglichen Gegenden der USA meldet. Auch hier deutlich erkennbare Verbindungen zu Ellroys Autobiografie, der Ermordung der Mutter, was eine sehr brutale Form des Verlassenwerdens ist.
Wie beinahe alle Personen in „Blut will fließen“, wird Crutch als vollständig zerrissener Mensch dargestellt. Auch seine Fixiertheit auf ältere Frauen bleibt davon nicht ausgenommen. Was sich als eine besondere Form der Verehrung erkennen ließe (Crutch tritt diesen Frauen niemals zu nahe, er belästigt sie nicht, er zeigt ihnen diskret seine Bewunderung), lässt sich auch als eine besondere Form der Missachtung deuten. Für Crutch sind diese Frauen Fetisch, Zielpunkt einer verqueren Sexualität, Objekt.
Crutch ist, wie gesagt, ein begnadeter Rechercheur, und Recherche bedeutet hier: Er zeichnet Leben nach, aus Fakten und Vermutungen, bis am Ende die Fakten überwiegen, die gesuchte Person gefunden. Genau das macht ein Autor. Er sucht und findet sein Personal, es konturiert sich allmählich. Und Crutch ist, wie es auch ein Autor sein sollte, Herr des Geschehens. Die Geschichte ist ihm untertan, nur er hat die Macht, alle Rätsel zu lösen oder, wenn es ihm beliebt, sie niemals enden zu lassen. Manchmal kokettiert Crutch, der Autor geradezu mit seiner Allmacht, etwa wenn er sein vorzeitiges Ausscheiden aus dem Roman vermittels Kopfschuss dadurch verhindert, dass der vorgesehene Exekutor plötzlich Gefallen an seinem Opfer findet und es leben lässt. Auch das häufig bemängelte Ende des Romans, der noch einmal alle Fäden aufnimmt und auf wenig kunstvolle, geradezu hektische Art entwirrt, zeigt noch einmal diese Macht. Seht her, sagt Ellroy, ICH entscheide.
In Crutch, dem Mistkerlchen, offenbart sich die Selbststilisierung des Autors Ellroy, das Obsessive, nicht selten schlicht und ergreifend Ekelhafte eines Charakters, von dem wir indes nicht wissen, ob hier tatsächlich der empirische Ellroy als Kunstform zu besichtigen ist. Ich habe damals am Beispiel Schmidt die gegenteilige Mutmaßung geäußert. Für mich hat letztenendes der empirische Autor Arno Schmidt nicht via Autor-Ich den fiktiven Schmidt geformt, sondern genau umgekehrt. Der Mensch hat sich seiner Figur angepasst. Ob das bei Ellroy ähnlich gelaufen ist, weiß ich nicht. Dass der AUTOR Ellroy, wie er sich als Crutch porträtiert, ein Wesen sein muss, das seine Stärke, seinen Schaffenswillen aus völligem Desolatsein schöpft, erscheint mir aber logisch.
Und das Buch selbst? Nun, ich habe schon einiges an ihm auszusetzen. Baldigst nachzulesen in diesem Rezensententheater.
Bin schon sehr gespannt darauf.