(Seit unsere Mitarbeiterin Anna Veronica Wutschel jenen unvergesslichsten aller deutschen Krimisätze gehört hat – „Harry Hole mal den Wagen“ – ist sie besonders empfänglich für die Werke des norwegischen Autors Jo Nesbø. Und da es ihr endlich gelungen ist, bei ebay ein Sortiment durchgestrichener o’s zu ergattern, rezensiert sie die Bücher nun auch. Lesen Sie den beiliegenden Tatsachenbeweis.)
Gäbe es eine miniaturisierte Spielart von Krimi, in der – kleiner, schneller, funktionaler – in kurz getimter Zeitspanne möglichst viel vom Bestseller-Genre absolviert wird, könnte Jo Nesbø mit „Leopard“ ordentlich mit dieser Micro-Variante kokettiert haben. Auf 700 Seiten flackert durch den Roman nämlich bedrohlich viel Krimi auf. Da fragt man sich umgehend, ob Nesbø bei seinem komprimierten Rundumschlag auch ebenso viel Spannung liefert?
Aber natürlich, Nesbø schwelgt geradezu im Thrill. Zwei Frauen wurden auf perfide Art ermordet, weitere Opfer stehen auf der Liste des Mörders, und die Polizei kann sich den abscheulichen Tathergang nicht erklären. Im Laufe der Ermittlungen taucht eine ganze Reihe Verdächtiger auf und mit kluger erzählerischer Gewandtheit, die der Autor allerdings derart überstrapaziert, dass sie auf Dauer etwas leichtgewichtig erscheint, werden durch böse Manipulation und viel Suggestion nicht nur die Ermittler, sondern auch die miträtselnden Leser vielfach auf den Holzweg manövriert. Überhaupt spielt Nesbø gern mit Erwartungen und kreiselt beständig durch die Galerie seiner Verdächtigen, denn praktisch ist jeder ein Bösewicht.
Schließlich wurde längst erkannt, dass – bei aller Farbenfreude – die Welt moralisch betrachtet stark ins Grau tendiert. Die Grenzen zwischen Gut und Bös sind lange schon verwischt, die Charaktere komplex, und eine weitsichtige Rundschau ist vonnöten, um das aufzuzeigen. Persönliche Traumata und andere Schatten der Vergangenheit liegen über den Figuren. Aber auch die praktischen Machtfragen führen zu enormen internen Querelen – und das nicht nur bei der Ermittler-, sondern auch bei der Täter-Fraktion. Der Täter, ein in Serie mordender Sadist, der vielleicht doch keiner ist, tötet äußerst spektakulär und mit recht absonderlichen Mitteln. Das Morddezernat in Oslo steht vor einem Rätsel und einem großen Ärgernis, denn längst wurde ihm vom Kriminalamt der brisante Fall entzogen. Persönliche Eitelkeiten, Macht und Prestige sowie viel Geld stehen auf dem Spiel. Und wenn man derart vom Gegner ins Abseits gedrängt wurde, hilft nur ein Trick: Man reaktiviert einen Helden.
Der Held allerdings, der legendäre Harry Hole, hat seinen letzten großen („Schneemann“-)Fall kaum überlebt. Die norwegische Ermittler-Legende ist in Hongkong gestrandet, hat sich umgehend ordentlichen Ärger mit der dort operierenden Mafia eingehandelt, um daraufhin völlig abzutauchen und sich dem Alkohol- und Opium-Rausch auszuliefern. Nun muss der geniale, aber gestrauchelte, scharfsinnig ermittelnde Logiker aus dem Drogensumpf zurück nach Oslo gelotst werden. Zudem liegt auch sein Vater im Sterben, so dass Harry, der privat bereits enorm unter der dramatischen Trennung von seiner großen Liebe Rakel leidet, nur wenig Zeit bleibt, um sich mit dem Sterbenden auszusöhnen. Obgleich widerwillig, kehrt Harry nach Oslo zurück und natürlich kann er dann auch nicht die Finger vom Fall lassen, ermittelt bald im kleinen Kreise, inoffiziell, wenn nicht gar illegal, und fliegt mit seinem Spezial-Trupp rasch auf. Denn intern lauern längst die Kollegen vom Kriminalamt, um nicht nur Harry das Leben schwer zu machen.
Den knallharten Ermittler kann das nicht schockieren, konsequent methodisch geht der einsame Querkopf in diesem von allen Seiten schwer verkomplizierten Fall vor und konsultiert letztlich gar seinen schlimmsten Feind, den „Schneemann“, der mit einer knappen Serienmörder-Expertise à la Hannibal Lecter den Ermittlungen tatsächlich eine neue Richtung weist.
Viele Sünden und Sünder fährt Nesbø auf, die allesamt kräftige Böcke schießen. Am Ende hat so ziemlich jeder jeden mehrfach hintergangen und verraten. Schmerz, Liebe, Schuld und Deals unter Feinden spiegelt Nesbø schön abstrahiert. Viel Love, Sex and Drugs sorgen für den Drive. Eine spezielle Internet-Fahndung, aus der Psychiatrie rekrutiert, führt zu Motiv und Täter. Exotische Schauplätze wie Hongkong und der Kongo (dort darf Harry noch rasch auf ein paar skrupellose Kindersoldaten treffen), ein ausgefallen folterndes Mordinstrument und viel, viel Action würzen das melancholisch skandinavische Krimi-Paket à la Bestseller ab.
Ordentlicher Humbug also in gedrängter Form? Klar, doch spielt Nesbø auch seinen Trumpf geschickt aus. Er ist nämlich ein großartiger, sehr humorvoller Erzähler, der wunderbar und völlig ohne Psycho-Schnickschnack an der Oberfläche erzählt und doch das Brodeln im Innern (des für den „Leopard“ nicht ganz unwichtigen Vulkans) erfasst. Etwas wehmütig könnte man werden, denn Nesbø könnte sicherlich auf seine aberwitzigen Plots verzichten und mit leichter Hand bestes Prime-Crime schreiben. Aber vielleicht will er das gar nicht. Und seinen Lesern scheint die norwegische Maximum-Show-Effekt-Variante gut zu gefallen.
So gesehen kann „Leopard“ nicht nur mit dem Harry-Hole-Bonus überzeugen. Nesbø spielt clever mit seinem üppig ausgeheckten Grusel-Depression-Kosmopolit-Bestseller-Spektakel, das in konzentriert verdichteter Form erfolgreich aus jedwedem Alltag entführt. Könnte das Micro-Crime sein? Die Kurz-Variante von schneller, besser, die flugs möglichst viel vom Ganzen spektakulär ineinander knuddelt? Vielleicht. Flotter und wohl auch brutaler An-Der-Nase-Herumführ-Lektüre-Spaß ist zumindest garantiert. Der langfristige Mehr-Gewinn, der Literatur zuweilen nachgesagt wird, bleibt hingegen durchweg zweifelhaft.
Anna Veronica Wutschel
Jo Nesbø: Leopard. Ullstein 2010
(Panserhjerte, 2009. Deutsch von Günther Frauenlob und Maike Dörries).
699 Seiten. Euro.