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"Sie wollen doch auch lieber Frankreich - Dänemark gucken als wie Südafrika gegen Saudi-Arabien?"

So hebt der befürchtete Fußballdiskurs an. Meinsell hat sich noch nicht blicken lassen, ich liege, ein moderner Gregor Samsa, auf dem Rücken und bin hilflos. Buchstäblich abgeschnitten von allen Strohhalmen, an denen ich mich aus den verbalen Kaskaden des Boskonz ziehen könnte. Kein Laptop, kein Buch, keine Zeitung außer der unsäglichen, die mir mein freundlich-tückischer Nachbar zur Lektüre überlassen hat. Nichtsnichtsnichts, das andeuten könnte, hier beschäftige sich ein Mensch ernsthaft und konzentriert, sei in wichtigen Stoff vertieft und wünsche kein Gespräch. Stattdessen spiele ich den arschdummen Käfer, meine Welt eine weiße Zimmerdecke. So gesehen muß Boskonz überzeugt sein, er tue mir mit seiner Unfähigkeit, die Wörter halten zu können, einen Gefallen.

Noch ist etwas Zeit und Boskonz sparsam genug, sein Fernseheinwurfgeld nicht für "Vor- und Stimmungsberichte" zu verplempern. Von mir hat er nichts zu erwarten. Ich habe keine Ahnung, wo sich meine Brieftasche momentan befindet. Auch über den Verbleib meiner Kleidung weiß ich nichts.

"Ich geh noch eine rauchen."

Fünf Minuten habe ich Zeit, Boskonz für diese Ankündigung zu hassen, dann kommt er, sichtlich beschwingt, zurück und fängt an, das Garn seines Lebens und seiner Krankheiten zu spinnen. Er leidet an Magengeschwüren, "schon seit ich denken kann. Und die Dummbeutel haben mir immer erzählt, das wär psychisch. Isses aber nicht. Is eine Bakterie, die wo Helicobacter pylori heißt. Muß man sich vorstellen! Da reden die einem ein, man nähme sich alles so zu Herzen. Die Arbeit aufm Amt, die Alte daheim, oder sogar das Fernsehen. Und dann isses so eine Bakterie!"

Er schweigt abrupt für die Ewigkeit dreier Sekunden und sieht mich an.

"Glauben Sie - ich meine: Sie als Journalist - glauben Sie, es gibt vielleicht überhaupt keine Psyche? Sondern nur Bakterien?"

Ich halte das für einen interessanten Aspekt.

"Kann schon sein. Sie sind verheiratet?"

Selbstredend besitzt Herr Boskonz eine Frau. Sie haben sich auf dem Amt kennengelernt, wo beide "Sachen bearbeiten", und morgen, droht der Mann, dürfte ich sein gutes Stück kennenlernen. Warum ich danach fragen würde.

"Na - weil die Liebe schließlich auch etwas Psychologisches ist. Ein Befehl, Hormone freizusetzen."

"Hm."

Das gibt ihm zu denken. Ich fahre fort:

"Wenn sie nun eine Bakterie wäre - quasi eine Bakterie mit Vierfachaufgabe. Erstens: Suche einen Menschen und springe zu ihm rüber. Stelle fest, ob in ihm eine kompatible Bakterie ist. Wenn ja: Bringe sie dazu, auf deinen Wirt überzuspringen. Ist das geschafft, bringt ihr den Hormonausstoß in Gang."

"Das wäre ja - wie bei Magengeschwüren, Aids oder Grippe? - Eine Krankheit?"

Das haut ihn um.

"Ojoijoijoi. Daran hab ich überhaupt noch nicht gedacht. Sagt das die Wissenschaft?"

Ich täusche eine vage Erinnerung an spezielle Berichterstattung vor und verspreche ihm, bei Gelegenheit nachzuschauen und ihn auf dem Laufenden zu halten.

"Gott, is das heiß!"

Ich kann nicht klagen. Der Gips kühlt himmlisch meine noch immer gefühllosen Beine, zudem kommt frischer Wind durch die Fenster. Boskonz schlüpft aus seinem Shirt, legt sich rücklings auf das Bett und massiert mit kreisenden Bewegungen der Handflächen die Bauchdecke.

"Ist Ihnen nicht gut?"

Er stöhnt.

"Doch, doch. Aber so heiß. Überall. Und der Helicobacter..."

Für einen Moment grenzenlosen Optimismus fasziniert mich der Gedanke, das Unwohlsein meines Nachbarn könnte über seine Fußballgier Oberhand gewinnen. Wird wohl nicht geschehen. Boskonz zieht die Knie zum Bauch, dem die Massage keine Linderung gebracht hat. Soll ich klingeln? Die Schwester alarmieren? Ich gestehe: Ich bin feige, und die Befürchtung, gleich stürzten, wie von Schwester Benedikta angedroht, zwei der uniformierten Zölibatsbesitzer mit der Pfanne ins Zimmer, läßt mich schaudern. Ich kämpfe sowieso schon mit dem Stuhlgang. Ein aussichtsloser Kampf, den ich nur verlieren kann. Hinauszögern. Wozu eigentlich?

Boskonz richtet jetzt seinen Oberkörper auf, beugt ihn nach vorne, bis der Kopf zwischen den Beinen liegt und Ort eines anhaltenden, immer lauter werdenden Stöhnens ist. Ich muß klingeln.

"Soll ich klingeln?"

Eine leichte Veränderung der Modulation in Boskonzens herausgepresster Klage. Ich klingele.

Info zu Werner Boskonz Karl-Olaf Horst
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Karl-Olaf Horst

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