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Meine literarischen Pfauenfedern verkümmerten, kein Brief, kein Foto gab ein Zeichen. Längst war mir klar, daß die Seiten, auf denen meine Texte standen, mit einem beängstigend eingeschliffenen Automatismus überblättert wurden, die Durststrecke zwischen den Sensationen der Lokalreportagen und den artigen Behaglichkeiten zum Feierabend des lesenden Menschen. Es war ja auch nie anders gewesen, es kümmerte mich nicht. Wahrscheinlich verfertigte ich selbst nichts sonst als Pfauenfedern für irgend jemandes prosaisches Hinterteil.

Wie ein jegliches außerhalb des Gewöhnlichen heutzutage hat sich der Maxmarkt zum Kult entwickelt. Ein Status, der früher "Casablanca" zukam, mittlerweile aber jeder TV-Moderatorin zufällt, die sich beim Lispeln die Zungenspitze abbeisst. Verdammt, in was für Zeiten wir leben!

Es geht niemals um Qualität. Es geht um das Exotische. Gleich daneben, durch eine unsichtbare, sehr schmale Grenze von diesem getrennt, öffnen sich die Abgründe des Ärgerlichen. Mit den Pfauenfedern balancierte ich auf dieser Grenze.

Denn meine Stücke wurden immer schlechter. Ich schrieb geistlos, mechanisch, ernst, auf so unrühmliche Art gewöhnlich, als ließe sich Herr A. als "Querdenker" abfeiern oder als arbeite Frau B. im Blitzgewitter der Öffentlichkeit einen Katalog von "Tabubrüchen" ab. Querdenken ist der sicherste Weg zum Geradeausdenken, Tabubruch der Schlüssel zur intellektuellen Biederkeit. Und so wie ich schrieb, musste ich jeden Moment befürchten, einen bedeutenden Literaturpreis verliehen zu bekommen.

Zu meinen besten Zeiten verfasste ich Texte, die es dem Leser unmöglich machten zu erkennen, ob man ihn belehren oder veräppeln wollte. Man nenne mir eine anspruchslosere Aufgabe als die, den Zusammenhang zwischen zwei Sujets herzustellen, zwischen denen es keinen Zusammenhang gibt! Nichts zerpflückt sich einfacher als die einfachen Wahrheiten, keine Ideologie ist so solide wie die von der beliebigen Reproduzierbarkeit objektiver Wahrheit. Vorbei. Ich war auf dem besten Wege, ein guter Journalist zu werden, und ich war besorgt.

Schiever, der nicht nur seiner Tochter väterliche Gefühle entgegenbringt, nahm mich eines Tages im Dezember schon am Eingang zu den Redaktionsbüros in Empfang, umgriff eisern meine Schulter und führte mich in den Konferenzraum.

"Wir müssen uns" flüsterte er "mal wieder zu einem brain pool kurzschließen."

Ich erinnerte mich ungern an den brain pool, denn - man glaube mir - in diesem Becken schwamm so viel Hirn wie im Hallenbad Fisch. Als der Maxmarkt noch neugierig durch seine Kindertage tollte, hatten solche Tagungen einmal im Monat stattgefunden. Sie brachten Schiever, Meinsell, den stillen Gesellschafter Dorsten und mich um die Platte eines opulent gedeckten Tisches, wo bei Speis und Trank allerlei Strategien ausgeheckt und inhaltliche Feuerwerke abgebrannt wurden. Bis in die Wirklichkeit des Blättchens schaffte es davon allenfalls eine lausige Knallerbse, und man konnte von Glück sagen, wenn auch die nicht vor der Zeit krepierte.

Meinsell und Dorsten warteten bereits auf uns. Letzterer ist ein Privatdozent im Fachbereich Soziologie und seit einer gewaltigen Erbschaft von dem Wunsche nach gesellschaftlicher Veränderung beseelt. In einer schweren Krise hatte er dem alten Freund Schiever mit einer größeren Summe aus der Verlegenheit geholfen, "reines Mäzenatentum, Wilfried, denn was unser Land braucht, ist eine organische Verbindung von Kommerz und Konflikt". Schiever, kein Dummkopf, hatte daraufhin die brain pool - Sitzungen ins Leben gerufen. "Bauchpinseleien für den Kapitalismus" wusste selbst der loyale Meinsell sich verbal nicht mehr anders zu helfen, "Exerzitien in nutzloser Kreativität und Gesellschaftsveränderung für eine saturierte akademische Arschgeige".

Rasch zeigte sich, daß die brain pool - Sitzungen mehr waren: Monatliche Operationen, bei denen man Meinungen explantierte, wie Hämorrhoiden abschnitt, um sich die Schmerzen der Sachzwänge erträglich zu gestalten. Dann: Altarumkreisungen, Menschenopfer. Immer häufiger zielten Dorstens Attacken in meine Richtung, nannte er mich wahlweise einen Revisionisten und Anarchisten. Er mochte mich nicht. Ich mochte ihn nicht.

Ich mag keine Wissenschaftler. Ich halte Wissenschaft für den Zeitvertreib der Mittelmäßigen, und Dorsten war ihr fleischgewordenes Paradigma, eine Junggeselle jenseits der Vierzig, der nicht einmal die Studentinnen seines Instituts vögeln konnte und also bei der leichtesten universitären Übung versagte.

Dieses Mal bog nichts Kulinarisches den Tisch. Dorstens Rundkopf grübelte auf flachen Handtellern mit dem Aussagewert eines Hinweisschildes, das neonblinkend "Ich grübele!" verkündet. Besagter Kopf, ein gänzlich haarlos unterm Kunstlicht blitzendes Gebilde, ragte aus weißem Skipullover, darunter das schwarze Hemd. Es waren dies Muster aus den beiden einzigen Farbtöpfen, in die der liebe Gott den Dorstenschen Verstand getunkt hatte.

Jeder von uns besaß eine Seite des Tisches, und wir schwiegen eine Weile, bis Schiever murmelte, niemand denke an ein Strafgericht und die restlichen zwei Drittel der Troika präzisierten, niemand denke daran, an ein Strafgericht zu denken. Schiever meinte es ehrlich, fühlte sich unwohl, trank eine Tasse Kaffee auf ex und leierte eine Hommage à Horst in den fensterlosen Raum.

Die Strategie des Trios war simpel. Der Herausgeber würde aus meinen unleugbaren Verdiensten ein Ehrenhügelchen aufschippen. Dorsten fiele die Aufgabe zu, mich von dieser Erhöhung in die ausgehobene Grube zu stoßen, bevor Meinsell, der Vollender, das Erdreich diplomatisch einebnen konnte. Und ich? Ich wäre lebendig begraben, man würde mich mit bloßen Händen ausbuddeln und meiner dankenden Worte gewiss sein.

Dem Monolog des schwitzenden Schiever schenkte Dorsten in etwa das geringe Quantum Aufmerksamkeit, zu dem sich ein Schauspieler gemeinhin für den Text seines Partners aufraffen kann. Er wartete das Stichwort ab - es heiß "Krise" - , sammelte und räusperte sich, holte tief Luft und setzte an, sein gelerntes dramatisches Gedicht zu repetieren.

Nach einer allgemeinen Bekräftigung der soeben vernommenen Lobgesänge - "Daran kann ein vernünftiger Mensch überhaupt nicht zweifeln!" - kam Dorsten auf das Dilemma des Denkers an sich zu sprechen.

"Wenn man denkt, entsteht ein kommunikativer Akt als Binnenvereinbarung. Ich denke so lange, bis ich verstanden habe, was ich denke."

Sollte aber - und wer vom Denker zum Schreiber werde, sehe sich haargenau damit konfrontiert - sollte also das Gedachte nach außen hin vermittelt werden, bedürfe es einer neuerlichen, diesmal nach außen zielenden Vereinbarung, den kommunikativen Akt betreffend.

"Die Binnenvereinbarung ist erfüllt worden. Ich habe verstanden. Was ich verstanden habe, hat sich meinem kommunikatorischen Koordinatensystem eingepasst, jenem Teil meines Gehirns, der mein Denken steuert. Denken ist Selbstgespräch, oder: Zwiegespräch mit mir. Im Moment der Veräußerung des Gedachten müssen die beiden Parteien in mir mit einer Stimme reden und sich auf ein fremdes Koordinatensystem einstellen. Konkret bedeutet das: Für welche Leser schreibe ich?"

Für viele; das sei eindeutig. Viele Leser mit vielen Koordinatensystemen, und völlig verfehlt sei es natürlich, es allen recht machen zu wollen, das funktioniere nie. Bliebe der Kompromiss; der Schnitt gewissermaßen, dem alles Extreme -

(Hoch- und Tiefpunkte einer Kurve in einem Koordinatensystem ermittelt man mittels der ersten Ableitung von der Grundgleichung: fiel mir ein.)

"- dem alles Extreme, der hochgebildete, der strohdumme Leser, zum Opfer fällt. Am Ende hast du den Durchschnittskonsumenten mit seiner geistigen Welt aus Konventionen, Versatzstücken."

Durchatmen.

"Der gewöhnliche Autor" fuhr Dorsten fort "transponiert seine Gedanken auf diese qua gesellschaftlicher Übereinkunft definierte Koordinatenfläche. Er bestätigt somit, indem er selbst sein Denken ausschließlich aus Konventionen und Versatzstücken formen muss, die Grundeinstellungen der Leser. Der außergewöhnliche Autor - und ich meine damit dich, lieber K.O. - verändert diese Grundeinstellungen. Er bringt den Leser weiter, er emanzipiert ihn ein Stück in Richtung des verfasserischen Gedankenvorsprungs. ABER - eben nur ein Stück. Er darf nicht übertreiben. Er muß schmackhaft machen, mit den Konventionen und Versatzstücken des Lesers spielerisch umgehen, sie zu Untertanen der Generalabsicht manipulieren. Die Exotismen - oder lass es mich so sagen: Der Leser ist ein Pauschaltourist im Regenwald. Er erlebt das Neue mit den Mitteln des Alten. Er hat einen Führer, der ihm den Weg durchs Gedankendickicht freimachetet. Er observiert Tiger aus unmittelbarer Nähe, aber so, daß er von der Bestie nicht verschlungen werden kann. DU befindest dich auf einem Weg, der den Lese-Reisenden praktisch in der Wildnis aussetzt. Du überforderst ihn. Du lässt ihn allein, du animierst ihn nicht, ihn, der immerhin Urlaub vom Alltag nimmt, wenn er liest, und unterhalten werden will. Sollte dieser Leser das Abenteuer unbeschadet überstehen, wird er beim nächstenmal wieder mit den Neckermännern von Bild, Spiegel und Stern ins Mallorca des Denkens fliegen. So ist das."

Schiever und Meinsell stierten betroffen auf die Tischplatte. Von jenseits der Tür kamen Geräusche, in Watte gepackte Schreie des Molochs. Er schrie: "Komm mir entgegen!", doch was unsere Ohren erreichte, klang wie: "Bleib mir von Leib!". Es war trostlos.

Alles harrte nun meiner Erwiderung. Dorsten, dem die Argumentationskette seiner Ansprache die Kehle verschnürt hatte, rang nach Luft und schenkte sich Kaffee ein, war aber außerstande, die Tasse mit seinen zitternden Händen zum Munde zu führen. Ich ließ mir Zeit und sagte dann, sehr gemächlich in der Artikulation:

"Stimmt alles, Walter. Ich muss dir recht geben. Das mit der Krise, das mit den Lesern: unterschreibe ich unbesehen. Woran es liegt? Keine Ahnung. Vielleicht bewegt sich etwas in mir, ist etwas in Unordnung geraten. Vielleicht brauche in diesen Tiefpunkt, weil ein Teil von mir genau das verstanden hat, was du gesagt hast, der andere sich aber noch sträubt, danach zu handeln. Mit dem Denken als Zwiegespräch liegst du vollkommen richtig. In mir streitet es noch, und aktuell habe ich nicht die Kraft für lockere philosophische Würfe. Mir gerät alles schwer, verbiestert, rechthaberisch. Ich schlage euch also vor, mich in den nächsten Monaten auf Lokalreportagen zu beschränken. Lass doch die beiden Streithähne da drinnen in mir ihren Strauss ausfechten. Die Sache mit dem Deutschunterricht für Aussiedlerkinder war der Anfang, ein, oder sehe ich das falsch?, befriedigender Einstieg -"

S & M nickten eifrig, Dorsten lehnte sich stöhnend zurück und tat es ihnen nach.

"... und als nächstes habe ich, soll ichs verraten?, eine sensationelle Geschichte in petto, pikante Details einer Verschwörung, die, wenn mich nicht alles täuscht, bald die ganze Republik hellhörig machen dürfte. Sex & Crime auf Watergate-Basis. Ich hoffe, Ihr seid mit meiner Entscheidung einverstanden."

"Herrlich!" plapperten die Augen der Herren Schiever und Meinsell. Dorsten reagierte zunächst nicht. Er hatte ziemlich notdürftig den Hamlet gegeben, und jetzt flüsterte ihm jemand aus dem Souffleurkasten zu, man spiele aber den Macbeth. Auf der Bühne stand ein düpiertes Häufchen Elend, das den Totenschädel in seinen Händen drehte.

Ging auch wortlos. Fixierte mich im Hinausgehen von der Seite. Meinsell, erleichtert, drückte mir den Oberarm und folgte dem nun in jeder Beziehung stillen Teilhaber.

"Bleib mal hier." Schiever wischte sich den Schweiß von der Stirn.

"Sag mir eins: Warum hast du Dorsten und sein dämlichen Theorien nicht auseinander genommen? War doch ein gefundenes Fressen. Kein Vorwurf, mein Alter, im Gegenteil. Der Typ hat uns gedroht, seine Kohle abzuziehen, wenn du weiter über Pfauenfedern und so nen Quatsch schreibst. Na, könnte sein, daß es mir sogar recht gewesen wäre, er hätte sich hier ausgeklinkt. Was brauch ich den noch. Ich bin überrascht. So kann man das sagen."

Ich mimte die reine Unschuld.

"Wenn er doch aber recht hat, der Privatdozent. Koordinatensysteme. Zwiegespräche. Kleine Schritte im Regenwald. Meinst du, er hat einen Doktoranden darauf angesetzt, ihm was Hübsches zu schreiben?"

"Anzunehmen. Und die Story mit dem Skandal stimmt? Bitte, ich will ja jetzt gar nicht nachhaken. Sagst eh nix."

An diesem Morgen im Dezember hatte sich etwas ereignet. Aus meinen langweiligen kleinen Traktätchen waren Drohungen geworden, und irgend jemand fürchtete sich so vor ihnen, daß er einen billigen Hanswursten vorschickte, mir seinerseits zu drohen. Gut; als Dorsten das Konferenzzimmer verließ, schaute ich ihm nach. Ich stellte ihn mir ohne Klamotten bäuchlings auf einem Bett liegend vor. Aber das passte nicht. Siebzig Kilo Soziologe ohne ein Gramm Fett. Jemand hatte ihn dazu gebracht, mir eine Nachricht zu überbringen. Eine Drohung. Dabei hatte ich doch Liebesbriefe geschrieben.

 

 

Fortsetzung folgt

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