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Jedesmal, wenn das Telefon klingelte, stob sämtliche Atemluft aus meiner Wohnung. Ich stürzte zum Apparat, hob ab, kratzte an Sauerstoff zusammen, was sich nicht schnell genug verzogen hatte, meldete mich und war froh, daß nicht sie es war. Ich wäre gestorben.

Jahrelang hatte ich die unglaubliche Sekunde, da es ihre Stimme am anderen Ende der Leitung sein würde, in meiner Phantasie erschaffen. Ich hebe ab, jemand meldet sich: "Diana". Ja, und? Nichts ja und. Unfähig, mir auszumalen, worüber wir reden sollten, wie es weitergehen konnte. Allein die Vorstellung, sie zu berühren, überstieg mein Vermögen bei weitem. Manchmal übersprang ich diesen Teil einfach und kam gleich zu einem flachen happy end, das ich dem Drama anhängte. Diana und ich reiten in den Sonnenuntergang, Abspann. Gedankenspiele, Gedankenquälereien. Das Telefon würde nicht klingeln, kein Mensch würde sich mit "Diana" melden. Am 25. März klingelte das Telefon, und eine Frauenstimme sagte, fast nicht hörbar, "Diana". Ich vertraute darauf, zu ersticken. Man tat mir den Gefallen nicht.

Kann es überraschen, daß wir, nach einem Vierteljahrhundert, zuerst über das Wetter redeten? Es war uns natürlich egal. Grippewetter; wen juckts. Wir schilderten uns gegenseitig die Symptome heraufziehender Erkältungen und tauschten die Namen wirksamer Nasensprays aus. Wir stimmten beide gegen die Grippeschutzimpfung, stritten uns dann aber über die Notwendigkeit, mit Überdosen Vitamin C vorzubeugen. So hatte ich mir immer vorgestellt, nicht mit ihr zu reden.

Ihre Arbeit in der Schule? Na, so la la. Ihr Engagement für die Aussiedlerkinder sei mir ja bekannt, und es mache ihr Spaß. Sie erkundigte sich nach meinem journalistischen Broterwerb, lobte meinen Stil und tadelte die leise Ironie allüberall. Was aus dem Roman geworden wäre, den ich als Achtzehnjähriger geschrieben und ihr zu lesen gegeben hatte? Ich verschwieg ihr, daß mich das Manuskript zehn Jahre von einer Bruchbude zu nächsten begleitete, bis es, eines schönen Tages, zwischen alte Illustrierte geriet und dem Altpapierrecycling zugeführt wurde. Ich war ein Roman.

Dinge, die sie nicht sagen darf: "Ja, die alten Zeiten!" - "Freut mich, daß es dir gut geht." - "Weisst du noch..." - und ich ahnte, sie barg gleichfalls eine solche Liste in ihrem Busen: "Warum hat sich deine Schwester umgebracht?" - "Woher hast du das Foto?" - "Ich habe deine Schrift auf der Rückseite sofort erkannt." - "Was verbindet dich mit Egbert?" - "Wieso rufst du an?" - "Warum hast du mir das dritte Foto nicht geschickt?" Diese Fragen durfte ich nicht stellen.

"Was ist damals passiert?" fragte ich, bevor sie "Ja, die alten Zeiten!" aus dem Schatz der Phrasen hervorkramen konnte.

Sie antwortete nicht gleich. Sie wägte jedes Wort, jede Silbe ab. Zehn, fünfzehn Sekunden war Stille, und zehn, fünfzehn Sekunden waren wir uns so nah, wie wir es früher gewesen waren. Ja, die alten Zeiten.

"Mit meiner Schwester? Sie ist in den letzten Wochen vor dem Selbstmord eine andere gewesen. Nicht mehr das naive, freche, neugierige Kind. Wir haben es nicht ernst genommen. Das ist die normale Entwicklung. Sie war in diesem Alter..."

"Das Tagebuch, Diana. Was stand in Judiths Tagebuch?"

Wieder überlegte sie lange, wieder waren wir uns nah.

"Sie hat von dir geschwärmt. Unschuldig, zunächst. Hat sich vorgemacht, du hättest sie 'so ganz bestimmt angeschaut' - obwohl ich sicher bin, daß sie nicht einmal wusste, was 'so ganz bestimmt' ist. Dann wurden die Eintragungen düsterer. Sie kämpfte mit sich. Stellte sich die Frage, ob es recht sei, mir, ihrer Schwester, den Freund wegzunehmen. - Ach, es war so natürlich, so lächerlich, so schön romantisch!"

"Und? Das kann nicht alles gewesen sein. Deshalb bringt man sich nicht um."

"Deshalb nicht. Vier Wochen vor ihrem Tod hat sie den letzten Eintrag vorgenommen. Ich habe die Stelle immer wieder gelesen, tausendmal, nein, öfter. Ich kann sie auswendig---"

Sie atmete hastig, schwer, unregelmäßig.

"Entschuldige. Ich muss ruhiger werden. Es heisst dort: 'Er hat mich angefasst. ER. Ich wollte es nicht. Ich hab doch gesagt, daß es nicht recht ist. Aber da hat er gelacht und gemeint, er würde mir doch nie etwas Böses tun. Und Diana mache es doch auch, und es wäre schön. Er hat mir unters Hemd gegriffen, und jetzt kann ich nicht mehr weiter schreiben, und jetzt kann ich nicht mehr weiter leben."

"Und mein Name? Nennt Sie meinen Namen?"

"Nein. Aber alle dachten, es könntest nur du gewesen sein. Du bist der einzige Mann, der in ihrem Tagebuch vorkommt. Dann der Hinweis auf mich. Was hätten wir denn sonst denken sollen? Kannst du das nicht verstehen?"

"Und seit wann weisst du, daß ICH es nicht war?"

Sie schniefte. "Seit letzten Sommer."

"Seit dem Foto."

"Ja. Aber bitte: Ich möchte nicht über das Foto sprechen. Es war ein Fehler, es dir zu schicken. Vergiss es bitte."

"Wie könnte ich das?"

"Mir zuliebe. Du hast meine Schrift erkannt, ja?"

"Sofort. Ich habe mich an die kleinen Zettelchen erinnert, die du mir im Unterricht hast zukommen lassen."

"Über den dicken Manfred, gelt?" Sie lachte. "Der in mich verliebt war und mir einen Gefallen tun wollte und erst ganz allmählich gemerkt hat, daß er mit jedem Gefallen seine Chance mehr und mehr verspielte."

Sie brach abrupt ab; sagte bestimmt: "Das Foto ist unwichtig. Die Person, die es zeigt, ist unwichtig."

"Herrn Egbert."

"Egbert ist unwichtig. Er hat im Bett einer älteren Frau gelegen, er war wahrscheinlich betrunken dabei, das ist alles. Es ist seine Sache. Ich will nicht, daß er deswegen seine Pläne aufgeben muss. Selbst wenn er - selbst wenn er die Frau... aber das ist Unsinn. Lass uns jetzt über etwas anderes reden."

"Ich möchte dich sehen." bat ich. "Können wir uns sehen?"

"Wo?"

"Im Sonnberger."

"Muss das sein? Auf dem alten Platz?"

"Auf dem alten Platz. Zweimal finsteres Mittelalter, das wir inzwischen sind, hockt beisammen und verkonsumiert riesige Mengen Torte, trinkt dazu koffeinfreien Kaffee, damit die Pumpe nicht aussetzt. Ganz harmlos. Könnte sogar dein Mann erfahren."

"Lass meinen Mann aus dem Spiel. Gut, ich komme. Aber über drei Dinge werden wir nicht sprechen: meine Ehe, meine Schwester, das Foto. Wirst du dich daran halten?"

"Versprochen."

"Dann..." Sie blätterte in ihrem Terminkalender. "Dann, wenn du es einrichten kannst - nächsten Donnerstag um vier."

"Wir könnten es ein informelles Gespräch nennen. Vielleicht mache ich ja einen Artikel über deine Deutschnachhilfe."

"Ha, ha, ha. Willst du deiner Kollegin in die Quere kommen? Nette Frau, übrigens. Ihr - ihr kennt euch näher?"

Mir war in diesem Augenblick, als fiele alles von mir ab. Alles Fleisch, alle Erinnerungen. Mir war, als wäre ich siebzehn und unberührt, als wäre sie siebzehn und unberührt, wir hocken an den Telefonen und machen den ersten Schritt auf einem langen, langen Weg. Sie übt sich in Eifersucht, ich sonne mich empört im Genuss dieser Eifersucht. Etwas blühte auf: und war doch nur der Rückblick auf etwas, das erblüht und längst vergangen war.

 

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