„…das Wetter war herrlich, die Maschine in tadellosem Zustand, der Auftrag sorgfältig vorbereitet (…). Ich gab ihm die letzten Anweisungen, dann half ihm einer von uns wie gewöhnlich beim Einsteigen ins Flugzeug und versicherte sich dabei, daá alles in Ordnung war. Wir sahen ihn von unserm Fluggelände von Borgo aufsteigen und hinter den Bergen, die die schmale Küstenebene säumen, in Richtung Frankreich verschwinden. Als die vorgeschriebene Stunde seiner Rückkehr verstrichen war, erfaßte uns Unruhe, dann Angst. Wir stellten alle möglichen Nachforschungen an, aber keine Radiostation, keine alliierte Maschine konnte die geringste Auskunft geben. Auch später in Frankreich hatten wir mit unsern Unternehmungen kein Glück.“
„Er war verschwunden wie ein Gott der alten Legenden in einer geheimnisvollen Himmelfahrt“, lautete der lakonische Kommentar seines Kameraden Jean Leleu. Trotz intensiver Suche blieb er, Antoine de Saint-Exupéry, der Autor des ‚Kleinen Prinzen‘, verschwunden bis zum heutigen Tag.
Er ist kein Einzelfall. Daß Personen verschwinden, ist ein alltägliches Phänomen, so ungewöhnlich es uns auch vorkommen mag. Jahr für Jahr verschwinden Tausende spurlos ohne jemals wieder aufzutauchen und in den wenigsten Fällen ist es so augenfällig wie im Fall von Saint-Exupéry. Der Alltag ist oft banal und die Liste der berühmten letzten Worte wird angeführt von dem Ausspruch: „Ich geh‘ mal kurz Zigaretten holen.“ Die Frage nach dem ‚warum‘ und ‚wohin‘ bleibt oft im Dunkel, und nicht selten verliert sich alles Weitere in Spekulationen, die ihren Ursprung in gleichem Maße in der Realität wie auch in der Fiktion haben können. Diese Ungewißheit ist es, die in uns das Gefühl der Beunruhigung entstehen läßt, das der menschlichen Natur so zuwider ist, weil es ihn aus seiner gewohnten Ordnung reißt; der Mensch ist nunmal ein Gewohnheitstier und nur äußerst ungern ein Opfer Heideggerscher Geworfenheit.
Dabei wird oft vergessen, daß das Phänomen des Verschwindens einen festen Platz in der Weltgeschichte hat: Tier und Pflanzenarten sind verschwunden und verschwinden täglich, ohne mehr hervorzurufen, als ein latent schlechtes Gewissen, das sich mit einem Greenpeace-Ablaß für 50 Mark beruhigen läßt, Weltreiche sind unter dem Staub der Geschichte verschwunden und nicht zuletzt in unserem Jahrhundert machten oder machen Staatsgebilde von sich reden, die sich vorrangig dadurch auszeichnen, daá sie ihre Einwohner verschwinden lassen. Neben dieser historisch-rationalen Sicht der Dinge existiert allerdings noch die metaphysisch angehauchte Bedeutungsebene, vollgestopft mit verschwundenen Kulturen, Weisheiten und Sch„tzen, die durch Mythen und Legenden in Form von Abenteuerromane oder deren Verfilmung in unser Bewußtsein vordringt und heute vorwiegend von Esoterikern als Tummelwiese zum Herumpendeln und Orakeln genutzt wird, weil sie um soviel phantastischer ist als das profane Weltge- schehen, dessen Geheimnisse immer weiter erklärt und dadurch immer banaler werden. Daraus entsteht auch die Ambivalenz, mit der wir dem spurlosen Verschwinden von Personen begegnen: auf der einen Seite die Beunruhigung, die aus dem Verlorengehen der uns umgebenden Strukturen entsteht, auf der anderen Seite die Faszination des Geheimnisvollen, die das Ganze umgibt. Umgangssprachlich drückt der Begriff Verschwinden ebenfalls zweierlei aus, nicht nur den Prozeß des sich-in-Nichts-auflösen, der damit damit in die Nähe des Existentialismus rückt, sondern auch den Vorgang des in-eine-andere-Form-Übergehens. Zwei Motive, die auf Schriftsteller einen besonderen Reiz auszuüben scheinen, denn es hat ganz den Anschein, als ob sie mit dem Verschwinden auf recht vertrautem Fuß leben.
In vielen Autorenbiographien findet sich hinter dem letzten Datum ein Fragezeichen; immer wieder, scheinbar wie zufällig, stößt man auf Sätze wie: „…seine Spur verlor sich 1914 im vom Bürgerkrieg heimgesuchten Mexiko.“ Oder „…die letzten Lebenszeichen stammen aus dem Jahr 1938, danach verliert sich seine Spur.“ Solange es Schriftsteller gibt, solange verschwinden Schriftsteller. Sie scheinen eine bestimmte Affinität zu diesem Ph„nomen zu haben. Die Grnde dafr sind vielf„ltig. Teilweise verschwinden sie physisch, teilweise verschwinden sie einfach nur aus dem Bewuátsein ihrer Zeitgenossen, sie geraten in Vergessenheit und gehen mitsamt ihrer Biographie unter im Fluá der Zeit. Andere setzten bewuát ihr Leben auf ’s Spiel, wenn sie aufgrund ihrer Arbeit bestimmten Organisationen und Potentaten in die Quere kommen und diese fr das Ende dieser Publicity sorgen, Kriegswirren, Massenvernichtung, Gewaltver- brechen und Naturkatastrophen tun ihr Übriges dazu, ihre physische Existenz auszulöschen und ihre Spuren zu verwischen. Die Ursachen weswegen Autoren verschwinden sind so unterschiedlich, wie ihre Werke. Häufig verschwinden sie aus eigenem Antrieb, weil sie darauf bedacht sind ihre physische Existenz zu verschleiern und an diese Stelle ihr alter ego treten lassen, getreu dem Motto, daß ein Schriftsteller nur in seinen Werken existiert. So werden sie selbst und ihre Biographie zur Fiktion, vielfach auch zum Mythos. Durch das Fehlen des Autors, wird die Trennung von Autor und Werk teilweise aufgehoben und animiert zum detektivischen Lesen, um anhand von autobiographischen Fakten, die in jedem Text zwangsläufig vorhanden sind, wenn auch in mehr oder weniger deutlicher Form, auf die Spur des Verschollenen zu kommen. Und nicht selten profitiert das Werk von den Mythen, die sich um den Autor ranken und zur Legendenbildung führen, zumindest auf der kommerziellen Ebene.
In den folgenden Ausgaben von Hinter-Net! wird an dieser Stelle über Schriftsteller unterschiedlichster Epochen und Stilrichtungen berichtet, die allesamt nur eines verbindet: sie sind scheinbar spurlos verschwunden bzw. die Fragen nach ihrer Existenz oder ihrem Verbleib konnte nicht vollständig geklärt werden oder aber erst posthum.