Der König von St. Pauli

Da will sich Dr. Zapp mal einen fernsehfreien Abend mit gepflegten Telefongesprächen unter Hinter-Net! Kollegen gönnen und dann so etwas: Wohin man auch ruft, überall das gleiche Echo: „Da läuft gerade ‚Der Dingsda von St. Pauli‘. Vielleicht können wir ja später…“ Nach dem dritten Anruf gibt man seufzend auf, greift wieder zur Fernbedienung und beteiligt sich am Sat.1-Quotenhoch.

Jetzt – nach sechs Folgen und ungezählten Werbeunterbrechungen hat „der neue Wedel“ ein Ende. „Und?„, höre ich die Redaktion schon rufen, „Was ist Dein Fazit?„.

Der König ist tot, es lebe Heinz Hoenig!“ ruft Dr. Zapp zurück, der weiß, daß es Hinter-Net!-Mitarbeiter kurz und prägnant mögen.

Des Koenigs neue Kleider Und damit Ihr’s wißt: Das „Fernsehereignis des Jahres!“ war „Der König von St. Pauli“ ganz bestimmt nicht, auch wenn uns die Sat.1-Werbeabteilung das ständig einzureden versuchte. Die vielleicht frappierendste Erkenntnis zur neuen Produktion Dieter Wedels ist: Hervorragende Schauspieler machen aus einem mäßigen Drehbuch keinen guten Film.

Gute Darsteller gab es einige in der St. Pauli-Saga, allen voran natürlich Heinz Hoenig. Brillant, wie er die Rolle des Sugar mit Leben (und Pfunden) füllte. Sein unbestrittenes Können und die Tatsache, daß Wedel ihm die Rollen wirklich auf den Leib schreibt, sorgen immer wieder für darstellerische Highlights, wenn die beiden zusammenarbeiten. Hans Korte als Graf überzeugte ebenso, obwohl seine Darstellung des mächtigsten Mannes rund um die Reeperbahn zuviel von einem Gentleman hatte. Auch bei anderen Akteuren blieb die Glaubwürdigkeit auf der Strecke, was aber – um es noch einmal ausdrücklich zu betonen – nicht an mangelndem schauspielerischen Talent lag.

So ist Julia Stemberger ganz sicher eine fähige Darstellerin, die einiges an Theater- und Fernseherfahrung mitbringt. Richtig anfreunden konnte man sich mit ihrer Rolle aber dennoch nicht. Die Figur einer leicht biederen, netten jungen Frau, die durch den Tod ihrer Schwester in eine tiefe Lebenskrise stürzt und beschließt, deren Erbe als Striptease-Tänzerin anzutreten, ist ziemlich weit hergeholt – vorsichtig ausgedrückt. Problematisch an dieser Entwicklungsgeschichte ist, daß Autor Wedel sie mit haarsträubenden Dialogen und kaum nachvollziehbar erzählte. Mädchen, wenn ihr Probleme mit euch selbst habt, dann geht nach St. Pauli! Zieht euch aus, laßt euch von euren Zuschauern betatschen und ihr werdet wahre innere Stärke finden! Und wenn ihr Zweifel an eurer erotischen Ausstrahlung als Tänzerin habt, dann denkt einfach an eure „schmutzigen Phantasien“.

Ist das noch der Dieter Wedel, den wir vom „Großen Bellheim“ und vom „Schattenmann“ kennen? Ganz sicher nicht.

Problematisch an Julias Coming Out ist aber auch, daß allein diese Persönlichkeitsentwicklung den Spannungsbogen der Story tragen sollte. So etwas kann – auch für einen Sechsteiler – funktionieren, falls die Atmosphäre stimmt und die Geschichte packend erzählt wird. Aber genau daran krankte die St.-Pauli-Saga. Selten besaß ein Film von Dieter Wedel so wenig Tempo, wirkten zahlreiche Szenen nur wie schmückendes Beiwerk.

In Zeitungsinterviews hat Wedel sich inzwischen bitterlich über die vielen Werbebreaks beklagt, die seinen Film zerstörten. Daß sich die sechs Fernsehabende so enorm in die Länge zogen, lag aber sicher nicht nur an der exzessiven Werbeunterbrechung. Richtige Spannung wollte einfach nicht aufkommen. Wird Robert Kranzow etwas zustossen, weil er Grafs Sohn verpfiffen hat, oder darf er weiter Erich-Kästner-mäßig über den Kiez radeln und die Mädels ungläubig durch seine Nickelbrille anstarren? Wird Würfel-Rudi die „Blaue Banane“ verkaufen oder sogar verspielen oder ist das ohnehin egal, weil der Laden nie offen ist und auch keiner der Beteiligten finanzielle Probleme hat? Wird Robert daran zerbrechen, daß Julia nicht ihn, sondern seinen Vater liebt oder interessiert ihn doch eher die blonde Fernsehjournalistin? Vieles wird kurz angerissen und taucht nie wieder auf. Richtige Handlungsstränge gibt es nicht. Immer wieder dieselben Motive und Personen, die sich zu keinem stimmigen Gesamtbild fügen wollen. Erst im letzten Teil werden die Ereignisse – reichlich überstürzt – zusammengeführt. Beschränkung hätte der Story sicher gutgetan. Vielleicht hätte es der Regisseur bei den ursprünlich geplanten vier Folgen belassen sollen. Stattdessen kamen noch zwei dazu und es wurde die aufwendigste Fernsehproduktion, die es in Deutschland je gab.

Allerdings hätte auch die Straffung der Handlung nicht dazu beigetragen, das Geschehen realistischer zu machen. „Der König von St. Pauli“ wirkt im großen und ganzen wie ein modernes Märchen. Nun ist Dieter Wedel intelligent genug zu wissen, daß niemand ihm diese soziale Rührstück als Versuch einer realistischen Annäherung an den Hamburger Kiez abnehmen wird. Was also wollte er damit zeigen? Ein Melodram, angesiedelt in einem zeitgemäßen, etwas ungewöhnlichen Ambiente? Eine Parabel auf die Natur des Menschen? Wohl kaum. Bestenfalls kann man den „König von St. Pauli“ als Versuch einer anspruchsvolleren Fernsehunterhaltung auffassen, mit Drama, Liebe, Gewalt, Tragik und viel nackter Haut. Schlimmstenfalls als eine eigenartig lieblose, fadenscheinige Milieustudie mit guten Schauspielern.

Und was gabs sonst noch?

Na, erst einmal natürlich den „König von St. Pauli“. Auf allen Kanälen. Wenn nicht „der neue Wedel“ (allein diese Formulierung erhebt einen TV-Serien-Regisseur plötzlich in lichte Höhen, à la Spielberg, Hitchcock oder Fellini) selbst, dann doch zumindest Talkshows und Specials mit Wedel, Stemberger oder einfach dem Thema Prostitution. Die Diskussion zum ältesten Talk Show-Thema bei Talk im Turm wurde erst einmal durch demonstrierende Studenten gestört, die sich an des Moderatoren Stuhl anketteten und ihm damit endlich Gelegenheit gaben, sich vor laufender Kamera so richtig autoritär zu geben.

Auch in den anderen Schwafelrunden bleibt man nicht vor St. Pauli Königsgesichtern verschont. Wedel erfreut sich am eigenen Tyrannenimage (schließlich sagte ja schon Hitchcock, daß man „Schauspieler wie Vieh behandeln“ müsse), Julia Stemberger onaniert im Film und sorgt damit für den meistdiskutierten (Quoten)Höhepunkt des 6-Teilers. Und Harald Schmidt betont mehrfach, daß „alles sehr ästhetisch“ sei – und meint das sogar ernst.

Das zeigt auch eine – ökologisch betrachtet durchaus begrüßenswerte – Recyclinghaltung seitens der Talkshowmacher. Mittwochs bei Harald Schmidt: Kerner und Stemberger. Am Donnerstag bei Kerners ZDF-Talk-Einstand: Julia Stemberger. Und Harald Schmidt hat bereits sein Kommen angesagt.

A propos Kerner:

Vor etlichen Monaten warnten wir schon vor ran-Moderatoren, die sich für Höheres berufen fühlen und sich in Richtung Talk oder Schlimmeres orientieren. Besonderes Augenmerk galt da auch dem „Sonnyboy“ Johannes B. Kerner. Aber erst seit seinem Transfer zum ZDF zeigt sich, daß in Sachen Gute-Laune-an-den-Tag-legen Kerner beste Chancen hat, Jörg Wontorra an Nervigkeit und Penetranz zu überholen. Das zeigte sich schon bei seinem ZDF-Einstand „Menschen 97“. Kerner gibt sich als Jahrmarktschreier, findet alles super, wunderbar, toll, oder – und das soll wohl das größte Lob sein – „einfach gut“. Lieblingswort: „richtig“. Richtig gut, da wird richtig gefeiert, sich richtig gefreut. Muß das sein? Man kann ja mal fragen.

Kerner – der Nettmensch extraordinaire, die fleischgewordene Emphase. Dr. Zapp wendet sich mit Grausen – und aus!

P.S.: Jörg Pilawa, wir beobachten Dich!