Was ich in den vorausgegangenen Folgen der Crime School vor allem vermitteln wollte, war das Abenteuer des Lesens an sich, die Erkenntnis, ein Text sei nicht nur ein von oben nach unten, von links nach rechts zu lesendes Diktat des Autors, sondern, recht eigentlich, etwas, das die einengende Zweidimensionalität einer Buchseite verlässt und in unseren Köpfen zu dreidimensionalen, mehr oder weniger labyrinthisch strukturierten Gebilden erblüht.
Mit allen Schikanen des digitalen Zeitalters: Lesen ist ein, wie wir in der IT-Branche sagen, „Multimedia-Event“ besonderer Güte. Wir stellen uns Bilder vor, bewegte wie unbewegte, hören Stimmen und Geräusche, riechen, schmecken, fühlen, kontrollieren die Interaktion (indem wir langsamer, schneller lesen, abschweifen, zurückblättern oder, auch das muss leider sein, das Buch ganz einfach zuklappen).
So betrachtet, wäre ein Essay mit dem majestätischen Titel „Der Krimi im Zeitalter der fortschreitenden Digitalisierung“ schlichtweg überflüssig. Denn welche Möglichkeiten, die wir als LESER nicht hätten, könnte uns der Computer bieten? Anders verhält es sich für die Person des Autors. Was wir multimedialisieren, legt er zumindest an (wiewohl er kaum nennenswerten Einfluss auf das Resultat der Lektüre hat; beschreibt mir der Autor eine Frau als „blond, drall und dicklippig“, denke ich mitnichten an Claudia Schiffer, auch wenn es der Autor so intentiert haben sollte. Ich denke an Frau Bardot, basta!). Und müsste er nicht interessiert sein, die Möglichkeiten des Mediums „Computer / Internet“ auszunutzen, um seine Arbeit zu differenzieren, ja, am Ende gar zu einer neuen Ästhetik des Schreibens von (Kriminal-)Romanen zu gelangen?
Die alte Nietzsche – Weisheit „Das Schreibzeug arbeitet mit an unseren Gedanken“ bekäme wohlmöglich einen gänzlich neuen Sinn, denn das „Schreibzeug“ Computer hält nicht mehr nur die in Worte gefassten Gedanken fest, es ge- oder verunstaltet sie auch auf eine Weise, die einer Revolution gleichkommen könnte.
Vorsicht. Wenn ich schon sagte, Lesen sei im Grunde multimedial, also „digitalisiert“, dann muss ich auch sagen, dass „digitale Literatur“ genau den umgekehrten Effekt haben kann. Sie zerstört durch das Diktat des Konkreten, des qua Medien sichtbar Gemachten genau diese unsere Befähigung zum „3D-Lesen“ und macht uns zu bloßen passiven Rezipienten dann nur noch zweidimensionaler Informationen und Reize oder, das wäre noch der bessere Fall, sie bietet uns perfekte 3D-Räume, in denen wir uns ergehen können, ohne daran zu denken, uns selbst einen zu schaffen. Das wäre besser, aber noch lange nicht gut. In diesem Zusammenhang sei jetzt nur kurz die „Verfilmung“ erwähnt, eine „Multimedialisierung“, die ebenfalls ihre Tücken haben kann (und ihre Chancen), mit dem Rüstzeug der Digitaltechnik indes weder im Guten noch im Bösen mitzuhalten vermag. Später mehr.
Andererseits: Zumindest theoretisch ist es möglich, Texte durch den Einsatz digitaler Techniken auf eine höhere Ebene der Wahrnehmung zu heben. Oder, sagen wir es weniger euphorisch: Es kann mir die Chance einräumen, näher zum Leser zu kommen, ihm Sichtweisen anzubieten, die er selbst vielleicht nicht als selbstverständlich ansieht und folglich ausblendet. Aus Gründen, über die noch zu reden sein wird, erscheint mir gerade der Krimi als ideales Studienobjekt in Sachen „digitale Aufbereitung“.
Vorab zwei Beispiele, die sowohl das Positive als auch das mögliche Negative solcher Darstellungsweisen illustrieren mögen: Ich schreibe einen „Internetkrimi“, der es dem Leser erlaubt, von der Perspektive des Ich-Erzählers in die des neutralen „Er“ zu wechseln. Stellen wir es uns grob technisch vielleicht so vor: Ein Stück Handlung in der Ich-Form wird gezeigt. Klickt der Leser auf einen Button „Er“, wird diese Handlung quasi von außen reportiert. Ein Button „Ich“ erscheint und erlaubt es, wieder zu wechseln. Problem 1: Der Autor müsste seinen Roman zweimal schreiben. Da wir bei vielen bedauern, dass sie ihn überhaupt einmal geschrieben zu haben, wächst dadurch leider auch der Mistberg ins Gigantische. Problem 2: Der Leser müsste den Roman zweimal lesen. Ist das Ganze nur l’art pour l’art, d.h. ergibt sich aus dem Vergleich der jeweiligen Textpassagen nicht quasi eine neue Sichtweise (etwa dadurch, dass sich zwei Einschätzungen eines Tatbestandes unterscheiden), dann handelt es sich um groben Zeit- und Lustraub seitens des Autors. Ergibt sich diese neue Sichtweise, muss der Leser sie rezipieren können, ohne den Faden zu verlieren.
Zweites Beispiel: Ich stelle einen Krimi konventionell ins Netz, ergänze ihn jedoch um Abbildungen. Beschreibe ich etwa eine Kommode, dann sieht man diese Kommode im Bild. Da dies auch schon beim herkömmlichen, also Buch-, Verfahren kein Problem wäre, setzen wir noch eins drauf: Die Schubladen der Kommode sind anklickbar und öffnen sich. Wir erkennen Gegenstände, die möglicherweise mit der Handlung in Verbindung stehen, gar für sie wichtig sind. Problem 1: Der Autor verlagert Teile der Handlung von der Text- auf die Bildebene. Das kann in Ordnung sein oder verdammt schiefgehen. Mehr dazu noch nicht, weil wir hier wirklich ausführlicher werden müssen. Problem 2: Die Qualität der visualisierten Teile. Auch hierzu später mehr. Problem 3: Der Leser gerät aus dem „Lesefluss“. Er muss Objekte anklicken, betrachten, zurück zum Text gehen, wieder etwas anklicken, interpretieren, vielleicht andere Texte zu den angeklickten Objekten lesen usw.
Die beiden Beispiele stehen stellvertretend für die momentan im „Web“ zu besichtigenden Hauptformen der Digitalisierung von Krimis: Hypertext-Konstruktionen (Links, die zu weiteren Texten und wieder zurück führen) und multimedial aufbereitete Textpräsentationen. Meistens findet man sie in Mischformen (viele Links, viele Bildchen), nicht selten auch in Form von Spielen. Interessanterweise scheint eine der ersten Spielarten von „Online-Krimis“ fast verschwunden zu sein: der Jeder-darf-mitschreiben-Text. Man findet ihn kaum noch.
Generell gilt auch: Digitalisierte Krimis sind für die Buchform verloren (was die Chance einer Akzeptanz dramatisch herabsetzt. Erinnert sei an die Vision vom „papierlosen Büro“, die ja, wie wir alle wissen, wunderbar umgesetzt wurde). Sie sind theoretisch in der Lage, die Literatur zu revolutionieren (Was sich leicht so dahinschreibt, ich weiß. Aber auch das wird ein Thema der nächsten Lektionen sein). Sie sind praktisch in der Lage, die Literatur zum Kasperletheater zu degradieren. Sie erfordern bessere Autoren. Sie erfordern bessere Leser.
Wir werden in den nächsten Wochen das Thema nicht nur theoretisch, sondern durchaus auch praktisch unter die Lupe nehmen. Die bisherigen Sujets (Realitätstüchtigkeit, Genredefinition etc.) werden natürlich dabei eine Rolle spielen und, so steht zu hoffen, in einem neuen Licht zu sehen sein.
Oh ja: Und irgendwann in nächster Zeit gibt’s auch die Klassenarbeiten zurück. Wer jetzt noch etwas nachreichen möchte, der tue es bald HIER!. Es müssen wahrlich keine Essays sein. Stichworte, kurze Anmerkungen: Alles ist willkommen!