Kann man in Kriminalromanen leben? Sie wie eine interessante Landschaft durchwandern? Mit dem Personal reden, ihm Worte entlocken, die es eigentlich schwarz auf weiß gar nicht sagt? Verfolgen sie einen vielleicht auch dann, wenn man die Wirklichkeit des Romans schon längst wieder verlassen hat?
Keine Angst, wir sind nicht in einem typischen Jasper-Fforde-Roman. Von „atmosphärischer Dichte“ war in der letzten Lektion die Rede, einem bei Lesern scheinbar sehr beliebten Zustand, von dem wir jedoch anzweifelten, er sei per se für das Wohlbefinden bekömmlich. Austariert solle sie sein in ihrer Zusammensetzung, die Atmosphäre, und was Dichte anbelange, so sei ein Zuviel genauso ungesund wie ein Zuwenig.
Worin besteht aber nun das Atmosphärische bei Büchern? Zunächst: Das Vorhandensein einer Atmosphäre verweist auf das Vorhandensein eines Raums, denn im Zweidimensionalen kann keine Atmosphäre existieren. Nichts gegen Krimis, über deren Flachsinn ich als Leser husche. Manchmal brauche ich das, manchmal habe ich weder Zeit noch Lust, tiefer in ein Werk einzudringen.
Ärgerlich nur, wenn ein Roman mit allen Mitteln versucht, mir Räumlichkeit vorzugaukeln, eine Räumlichkeit, die sich – man braucht gar nicht scharf genug hinzuschauen – als eine Ansammlung von Pappkameraden, Potemkinschen Kulissen und geistiger Untiefe entpuppt. Solche Bücher bleiben flach – schlecht flach, gewissermaßen, und dann greife ich lieber zu Krimis, die überhaupt nicht vorgeben, ich fände in ihnen mehr als das altbekannte Whodunit-Rätsel.
Atmosphäre ist also dort, wo Raum ist. Und Raum ist dort, wo es Atmosphäre gibt. Wie geht nun ein Autor vor? Schafft er zuerst den Raum – oder zuerst die Atmosphäre? Die Frage scheint überflüssig, aber sie ist es nicht. Betrachten wir uns einige Beispiele.
Räume in Romanen sind Abbildungen von Welten, und dies den Lesern schmackhaft zu machen, gelingt scheinbar am Leichtesten mit dem Nachbau einer vergangenen Welt. Willkommen im Reich der „historischen Krimis“. Du musst nicht besonders gut schreiben können, dein Plot braucht nicht der beste zu sein – sobald du „Historischer Krimi“ unter den Haupttitel deines Romans setzt, greift die Kundenhand automatisch nach deinem Werklein auf dem Novitätentisch der Buchhandlung. „Eintauchen in längst versunkene Epochen“, „Hautnah erleben, wie das so war im finsteren Mittelalter“ und so weiter. Der Raum gestaltet sich wie von selbst.
Wenn ich es richtig sehe (korrigiert mich, wenn ich mich irre), war Robert van Gulik einer der ersten, dessen Krimis man als „historisch“ bezeichnen konnte, spielten sie doch im alten, im sehr alten China. Davon verstand van Gulik eine Menge, und sein Talent offenbarte sich immer dort, wo es galt, uns fremde Sitten und Gebräuche, Ansichten und Handlungsweisen näherzubringen. Die Abenteuer des Richters Di und seiner Gehilfen zu verfolgen, ließ einen also in eine dieser versunkenen, noch dazu exotischen Welten eintauchen. Aber, pardon, war van Gulik deswegen schon ein guter Autor?
Simple Whodunits mit einer allwissenden Detektiv, recht hölzern agierendes Stammpersonal, jeder Fall logisch aufzudröseln – aber nur, wenn man alle Indizien kennt, und die kennt nur Richter Di persönlich, nicht aber der Leser.
Trotzdem lese ich die Dinger ganz gerne, weil sie einen kontrollierten Einstieg in einen „Raum“ erlauben, dessen „Atmosphäre“ darin besteht, dass dieser Raum historisch korrekt und architektonisch nicht ungeschickt hochgemauert wurde. Nicht mehr, nicht weniger.
Ein umgekehrter Fall sind die Paris-Krimis von Leo Malet. Sicher, auch das Paris der 50er Jahre, in dem die Geschichten spielen, ist „historisch“, und dass jeder Fall in einem anderen Arrondissement der französischen Hauptstadt angesiedelt ist, lässt vermuten, es handele sich auch hier um eine Raumkonstruktion. Aber nicht ganz. Die Aktivitäten des Nestor Burma vollziehen sich nicht in der Stadt, sondern in der Atmosphäre Paris oder, genauer, der Atmosphäre seiner Arrondissements. Wichtig ist dabei der Charakter des Führers Burma, der ja, wie die Helden der amerikanischen Klassiker, eine Mischung aus Zynismus und Mitleid in Hirn und Herz mit sich herumtragen muss. Und das war schon bei Chandler eine Garantie dafür, dass man das Wesen einer Geschichte einatmen konnte. Atmosphäre eben.
Auch die Vor-Pariser-Krimis Malets besitzen diese besondere, genau austarierte Atmosphäre, und das ist schon ein Fingerzeig, dass es nicht der topografische Ort sein kann, der, einmal geschaffen, automatisch Atmosphäre verströmt. Manchmal ist es eben umgekehrt, und die Geisteshaltung des Personals schafft erst den Ort, den Raum.
Ansonsten? Sprache? Plot? Also: Ich kenne keinen Detektiv, der so sehr von Kommissar Zufall an die Hand genommen wird wie diesen Nestor Burma. Da gibt es wirklich Besseres auf dem Krimiweltmarkt. Aber auch Atmosphärischeres?
Ganz anders bei Wolf Haas. Atmosphäre entsteht hier durch die Sprache des Erzählers, der selbst in nichts weiter existiert als seiner Sprache. Auch sie ist ein Raum, weil sie die subjektive Beschaffenheit der Handlung bestimmt, die gleichermaßen das Mobiliar des Textes ist. Entnähme man dieses Mobiliar dem Sprach-Raum, es wäre weder originell noch spannend.
Oder James Ellroy. Hier entsteht der Raum durch die Befindlichkeit der Personen. Aus ihnen wächst die Handlung, wachsen Topografie und Dramaturgie.
Was wir zu Raum und Atmosphäre gesagt haben, gilt für Literatur allgemein. Nun besitzen Krimis aber etwas ganz Besonderes (oder sollten es zumindest): Spannung. Sie ist entscheidend für die „Dichte der Atmosphäre“, und damit wollen wir uns in der nächsten Lektion beschäftigen. Bis dahin gibt es Hier wieder Gelegenheit, den eigenen Senf dazuzugeben.