Summer Camp -4-

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Geschichten bekam man in der Prä-TV-Aera zumeist mündlich überliefert. Bücher kosteten viel Geld, Lesenkönnen war ein nicht alltägliches Privíleg. Wir sprechen vom 18., vom 19. Jahrhundert.
Das war auch die Zeit, in der die modernen Erzählperspektiven in der Literatur heranreiften. Ihnen zugrunde lag zumeist die prototypische Situation des (um Arno Schmidt zu zitieren) „Erzählers im lauschenden Hörerkreis“. Irgendjemand erzählte wahre oder erfundene oder aus beiden Elementen spannend gemixte Geschichten in der Er- oder Ich-Form. Der Sprecher musste, wollte er sein Publikum bei der Stange halten, einiges bedenken. Wenn ich jemandem etwas erzähle, dann entwickelt sich im Kopf des Zuhörers ein Film. Das ist kein geringer Aufwand, und ich tue gut daran, es meinem Zuhörer zu gestatten, seinen Film möglichst ohne notwendige „Nachbearbeitung“ zu drehen.

Als Zuhörer im 18., 19. Jahrhundert war ich weit entfernt von den Gewohnheiten eines heutigen Fernseh- und Kinokonsumenten. Keine harten Schnitte, keine Überblendungen, kein abrupter Perspektivwechsel, eine MTV-Hektik. Klug also dass, wer einmal ER oder ICH gesagt, dabei blieb.

Und heute? Ist es weitgehend noch so im 18., 19. Jahrhundert. Muss ja auch nichts Schlechtes sein. Zumal ich es mir als Autor heutzutage schon erlauben kann, die schlichten Gesetze der Erzählperspektive aufzubrechen. Nur – wie weit darf ich gehen?

Die Schlüsselszene in Michelangelo Antonionis Film „Blow Up“ ist klassisch: Ein Fotograf macht Aufnahmen in einem Park. Auf der Vergrößerungen entdeckt er bei genauerer Betrachtung einen Schatten. Eine Leiche? Den Fotografen lässt sein Verdacht nicht mehr los. Er beginnt mit Nachforschungen und verschwindet allmählich in einer Welt voller vieldeutiger Zeichen, in eine Welt zwischen Wirklichkeit und Täuschung.

In eine Erzählperspektive verwandelt: Die Kamera ist zunächst außerhalb des Raumes platziert. Totale. Nüchterne Schilderungen in der dritten Person. Langsames Näherkommen der Kamera („Vergrößern des Ausschnitts“), sie fährt mitten in den Kreis der Handelnden, die Nüchternheit der Sprache wird langsam durch eine subjektivere, daher auch spekulativere ersetzt. Dann die Fokussierung auf die einzelnen Personen. Durchdringen der Hirnschale: Aus dem Er wird Ich. JedeR der fünf Handelnden gibt seine aktuellen Gedanken preis. Rückblenden.

Schließlich: Das Ganze zurück. Bis die Kamera wieder über der Szenerie hängt. Das Verbrechen findet statt. Ende.

So stelle ich mir den erzählperspektivischen Spannungsbogen der Geschichte vor. Er wird nicht der einzige bleiben, aber er ist quasi der „Leitbogen“, um den sich andere, eher handlungsspezifische gruppieren. Zugleich bestimmt er auch den sprachlichen Spannungsbogen. Alle zusammen schaffen die Basis dessen, was man „Atmosphäre“ nennen könnte.

Ihr zu Grunde liegt ein geradezu archetypisches Muster von Krimikonstruktion: Dein normaler Blick schweift über die Szenerie, es ist alles heil, alles bieder. Erst wenn du dich den Dingen näherst, zeigen sie ihre nicht ganz so heilen Details, ihre Brüche, ihre Abgründe. Mir persönlich sind solche Texte allemal lieber als die, in deren Oberfläche bereits ein Abgrund von den Ausmaßen des Grand Canyon klafft. Es gibt Ausnahmen. Kaputte Welten, an deren Kaputtheit es nichts mehr zu kaschieren, nichts mehr zu beschönigen gibt. Und je näher du kommst, desto deutlicher siehst du dahinter die Normalität, die alles andere als normal ist. Auch das ist Arbeit mit dem Mikroskop.

Ja, das hört sich nicht schlecht an, denkt jetzt der Leser. Aber, bitte, was ist eigentlich mit der Story selbst? Empfiehlt es sich wirklich, eine Erzählpespektive zu konstruieren, bevor man die Geschichte entwickelt hat?

Nun, die Vorgehensweise bleibt jedem Autor, jeder Autorin überlassen. Es gibt immer mehr als einen Weg, um die binsigste aller Weisheiten auszusprechen. Manche brauchen 3000 Zettel, bevor sie die Story im Kopf zusammenbauen und ablaufen lassen, manche beginnen mit dem Gerüst.

Die bittere Wahrheit ist, dass ich mir bis jetzt keinen Gedanken über die eigentliche Handlung unseres Krimis gemacht habe. Wird schon kommen; es gibt genügend „gute Ideen“, die ganze Welt wimmelt nur so von „guten Ideen“, aber gute Konstrukte für gute Ideen sind Mangelware.

Außerdem ist es ja so: Das Ausarbeiten der Erzählperspektive trifft quasi eine Vorauswahl hinsichtlich der Story. Unsere Vorgehensweise, das allmähliche Näherkommen einer immer aufdringlicheren, die Privatsphäre der Personen okkupierenden Kamera, untersagt „Handlungsschwangerschaften“. Niemand wird mit einer Knarre in der Hand durch die Botanik rennen und Leute killen, und wenn es doch geschehen sollte, dann als Reminiszenz desjenigen, dessen Hirnschale das Auge der Kamera soeben durchbrochen hat.

Wir wollen beim nächsten Mal die Erzählperspektive hinsichtlich ihrer Auswirkungen auf die Sprache untersuchen und gelangen somit in den inneren Bezirk jeglicher Literatur. Fokussieren, die richtige Brennweite einstellen: das ist kein Problem. Was geschieht aber mit den gefilmten Objekten? Wie verändern sie sich? Was nehmen wir von ihnen wahr? So stay tuned.

2 Gedanken zu „Summer Camp -4-“

  1. Hallo,

    nun kam natürlich, MTV hin oder her, den Zeitgenossen des 19. Jahrhunderts ihre Zeit auch sehr hektisch vor (Eisenbahn, gesellschaftliche Veränderungen und so).

    Und in der städtischen bürgerlichen Gesellschaft Englands war das Lesen doch recht verbreitet. Bücher von Dickens oder Thackeray feierten als „serials“ gigantische Erfolge und hatten eine große Leserschaft – so weit war man dann von so mancher Hype der Gegenwart nicht entfernt.

    Ach ja, diese Bücher. Wenn ich mich recht erinnere, sind viele der großen „Viktorianischen Schinken“ zwar auf ER bezogen, aber mit zahlreichen Erzählperspektivenwechsel versehen („vanity fair“, middlemarch“ „forsythe saga“).

    Mit besten Grüßen

    bernd

  2. Hallo Bernd,

    mit den verschiedenen „Ers“ hast du natürlich Recht. Allerdings war das, was man so „Schnittfolge“ nennt, doch erheblich bedächtiger als heutzutage. Und der „Erzählduktus“ war eben auch dem „Erzähler im lauschenden Hörerkreis“ angepasst.

    bye
    dpr

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