Je mehr Kriminalromane ich lese, desto wichtiger werden mir die Einzelheiten. Das Nebenpersonal. Die fleißigen Handlanger der Story, einzig geschaffen, den Erzählfluss am Laufen zu halten, Stichwortgeber für den Helden, die Heldin und den ersten Kreis der sie umgebenden Geschöpfe, die Auftraggeber, Verdächtigen, Opfer.
Sie nicht als bloße Objekte zu erschaffen, ist eine humane Geste des Verfassers / der Verfasserin, die besagt: Seht her: Ich nehme meine Arbeit ernst. Ich bin nicht darauf fixiert, eine mehr oder weniger spannende Story in all ihren essentiellen Punkten abzuhaken. Ich erzähle euch eine Geschichte, zeige euch eine Welt, und wie in jeder vernünftigen Welt hat auch hier alles was atmet seine Biografie. Und sei es nur ein kleiner Ausschnitt daraus. So gesehen, ist Laura Lippman mit „Butchers Hill“ ein sehr humaner Roman gelungen.
Tess Monaghan ist 29, ledig, Hundebesitzerin und seit Neuestem Privatdetektivin in Baltimores nicht unbedingt feinstem Viertel Butchers Hill. Die Geschäfte entwickeln sich erfreulich. Gleich zwei Klienten binnen einer Stunde. Der erste allerdings, Luther Beale, ist nicht nach Tess Monaghans Geschmack. Gerade erst wurde er aus dem Gefängnis entlassen, weil er vor Jahren einen kleinen Jungen in Selbstjustiz erschossen hat, jetzt peinigt ihn sein Gewissen und er möchte an den übrigen Zeugen seines Verbrechens Wiedergutmachung üben. Monaghan soll die Kinder finden, was nicht einfach ist, denn es handelt sich um die Zöglinge einer Pflegefamilie, und nach dem traurigen Zwischenfall wurden sie in alle Winde zerstreut.
Um ein Kind, das gefunden werden soll, geht es auch im zweiten Fall. Jackie Weir sucht ihre Tochter, die sie gleich nach der Geburt zur Adoption freigegeben hat. Auch hier: keine weiteren Anhaltspunkte. Und so treibt es Tess durch die zumeist schlechteren Wohngegenden Baltimores, zurück in die Vergangenheit anderer Leute – und irgendwann auch in die der eigenen Familie.
Das ist alles sehr schön erzählt. Mit viel Reflexion und Abschweifung, und die Geschichte entwickelt sich nach Faktenlage, nicht nach dem Diktat eines mit Zufällen und Unlogik hantierenden Autors. Die einfachen Arbeitsaufträge werden komplizierter, nicht zuletzt, weil die Personen selbst überraschen. Ihre Absichten sind nicht die, die sie vorgeben, hinter jeder Wahrheit wartet eine andere. Tess sucht also in dieser immer unübersichtlicher werdenden, immer aber souverän erzählten Handlung nach Menschen. Und findet sie.
Aber damit beginnt ihre Arbeit erst. Einige sterben auf mysteriöse Weise, andere lügen. Das sind die Anfangs erwähnten Nebenfiguren, und Lippmans größte Leistung besteht vielleicht gerade darin, dass sie diesen nur mit kurzer Verweildauer ausgestatteten Personen ein Stückchen Biografie mit auf den Weg gegeben hat. Jede hat ihr Schicksal, und für einen kleinen Moment blitzt dieses Schicksal auf. Die schwarze Mutter, die von Essensgutscheinen lebt, der schwarze Junge, der mit aller Gewalt aus dem Elend heraus will, der andere schwarze Junge, der mit Karacho in den Untergang stolpert. Und das weiße Ehepaar, das ein adoptiertes Kind wie ein T-Shirt zurückgibt, weil es die falsche Farbe hat. Auch ein Roman über Rassismus also. Über Adoptionen, Hoffnungen, Enttäuschungen, die kleinen Psychosen innerhalb der eigenen Familie und die großen der Gesellschaft.
Und das in einem Krimi, der seine Spannungsbögen gekonnt setzt, auch einmal verschnauft, um uns das Terrain zu zeigen, in dem sich Tess Monaghan bewegt. Mag sein, dass das Ende eine Spur zu happy daherkommt. Aber man gönnt es den Beteiligten – und schon dieses generöse Gefühl des Lesers ist ein Indiz dafür, dass Laura Lippman alles richtig gemacht hat.
Laura Lippman: Butchers Hill. Rotbuch Verlag 2005. 323 Seiten, 19,90 €