David Peaces „1974“ gehört in mancherlei Hinsicht zu den erfreulichsten Erscheinungen des bisherigen Krimijahres. Schon dass damit ein kleiner, gar nicht auf Krimis spezialisierter Verlag mehr als einen Achtungserfolg erringen konnte, stimmt optimistisch. Das Buch wurde hinreichend rezensiert, dominierte die →„Krimi-Bestenliste“, was wiederum die Notwendigkeit und den Nutzen eines solchen Instrumentes beweist.
Die Geschichte von Edward Dunford, Gerichtsreporter für das nördliche England, nimmt keine Rücksicht auf die sensiblen und durch jahrelanges Lesen höherer Literatur domestizierten Geschmacksnerven seiner Leser. Kleine Mädchen werden brutal ermordet, ein Bau- und Korruptionsskandal scheint damit verknüpft, Leeds und Umgebung sind trostlos, seine Einwohner verzweifelt oder zynisch, brutal oder hilflos, wahrscheinlich alles zusammen. Gewalt regiert, die Säfte fließen, unser Held ist so weit entfernt von einem Helden, wie es weiter nicht sein kann, am Ende überschlagen sich die Ereignisse, alles wird gut, das heißt: Alles wird noch schlechter.
Noir? Hard boiled? Ekelerregend? Natürlich. Meinetwegen. Vor allem aber: Exzellent geschrieben. Ein Text gewordenes Belegstück für die These, Literatur werde nicht zu Literatur, indem man tief in die Reflexionskiste greift und sich in stilistische Höhen zwirbelt, wo Thomas Mann Ernest Hemingway auf die Stirn küsst und Franz Kafka am Horizont stumm dazu nickt. L’art pour l’art, Kunsthandwerk, lächerlich. Peaces Sprache ist angemessen, die Diktion schnell, nervös, sie zerschneidet die Kontinuität des Erzählten wie die Kontinuität seiner Wahrnehmung. Angemessen: Das ist das Wort.
Angemessen. Man schneidet einem Schwan bei lebendigem Leib die Flügel ab und näht sie auf den Rücken eines ebenfalls noch lebenden kleinen Mädchens, dessen Vagina zuvor mit dem Stiel einer Rose malträtiert wurde. Ein Zigeunerlager brennt, die Polizei steht grinsend daneben. Die Mutter eines der verschwundenen Mädchen springt auf, schreit „Ich liebe dich! Ich liebe dich! Ich liebe dich!“, bloß weil Eddie Interesse daran bekundete, das Schicksal ihres Kindes aufzuklären. Dann gehen sie miteinander ins Bett, die Mutter spricht von ihrem Kind, Eddie vollzieht den Akt wie eine nüchterne Buchhalterarbeit (eine der großartigsten Szenen des Romans). Später nötigt er die Frau zum Analverkehr, bis das Blut fließt. Und so weiter.
Angemessen. Aber was wird hier dargestellt? Gewalt als Stilmittel? Der Exzess bis zum Exzess abgebildet? Abgebildet. Was wird hier abgebildet? Die Wirklichkeit Nordenglands, Wirklichkeit gar?
Man muss in einer seltsamen Welt leben, wenn man glaubt, Peace habe uns ein „authentisches Bild“ jener Zeit und jenes Ortes überliefert. Das ist so, als rühmte man James Ellroy als „den Fotografen der unser aller amerikanischen Wirklichkeit“, was er nicht ist, weil er viel mehr ist. Oder schriebe einen Essay über das schwedische Wohlfahrtsmodell an Hand der Romane von Sjöwall / Wahlöö oder, viel schlimmer, Henning Mankell. Nein, Peace hat das Szenario, in dem die bestialischen Morde stattfinden, diesen angepasst. Er hat die Wirklichkeit überdehnt, bis sie so bestialisch wurde wie das, was sie gemeinhin zerstört: das Verbrechen. Das ist nicht die feine Art des Krimis, in dem das Böse wie ein Krater im Normalen klafft. Alles in „1974“ spielt sich auf der gleichen moralischen Ebene ab: der Geschlechtsverkehr, die Mädchenmorde, der Redaktionsalltag, das Billardspiel in einer versifften Kneipe.
Was Peace damit erreicht, ist grandios. Weil alles nivelliert wird, weil Gut und Böse nicht mehr getrennt sind, funktioniert sein Roman wie eine nüchterne Versuchsanordnung. Man ersetze die Mädchenmorde durch etwas weniger Bestialisches, sagen wir: die Lieblosigkeit, mit der man die Jugend sich selbst überlässt – und schon senkt sich das Ambiente drumherum. Die Polizisten etwas weniger brutal, die Geschlechtsakte weniger drastisch, weniger Blut, weniger Kotze, weniger Scheiße. So kann man sich, wie man will, die Wirklichkeit einpendeln lassen, auf ihrem normalen Niveau, das aber alles andere ist als ein zivilisiertes. Grausamkeit, Dummheit, Rassismus: Aggregatzustände des Alltäglichen. Literatur, der solches gelingt, ist große Literatur.
David Peace: 1974. Liebeskind 2005, 384 Seiten, 22 €