Eigentlich würde ich es lieber „Krimi-Autopsie“ nennen. Aber das macht man ja nur, um die Todesursache festzustellen, und natürlich will ich nicht wissen, woran ein Krimi gestorben ist, sondern wie er ins Leben gebracht wurde. Also Krimi-Archäologie.
Obwohl: Wenn man sich durch einen Krimi gräbt, ist er eh schon tot. Man trägt eine Schicht nach der anderen ab, man stößt auf die Fundamente, die noch aus der Antike stammen, als Aristoteles in seiner „Poetik“ die Katharsis definierte, darüber liegt Lessing, der das Mitleid in die Dramentheorie einbrachte, tja, und dann kommt auch schon die Kolportage, an deren Rändern sich noch die Überreste der großen Romane des 18. Jahrhunderts finden lassen, Defoe, Sterne, Fielding, beschämenderweise nichts Deutschsprachiges. Steckt in jedem Krimi. Wie du einen Roman schreibst, das haben dir die Altvorderen längst vorgemacht. Nichts ist wirklich modern, weil die Alten schon so modern waren, dass man es bis heute nicht erkennt.
Zwischen Poes Deduktion und jenen „Schauer“ genannten Emotionen, die die gothic novel zur Geburt des Krimis beigesteuert hat, entdecken wir die Moral. Krimis ohne Moral sind nicht vorstellbar. Selbst wenn ein Krimi amoralisch ist, liest der Leser eine Moral aus ihm heraus, denn auch der Leser wäre ein guter Fall für die Literarchäologie. Eigentlich lesen wir noch so wie vor 200 Jahren, weil wir es vor 20 so gelernt haben.
Schneidet man mit dem Messer (also doch Autopsie?) vorsichtig in den Textkörper, quillt einem das Blut der Psychologie entgegen. Hm, ma guckn: altes Blut, etwa Ende 18. Jahrhundert, Karl Philipp Moritz würde ich sagen, mit etwas Freudschem Feld-Wald-Wiesen-Saft vermengt. Hat sich aber gut gehalten, vielleicht deshalb, weil die Autoren gar nicht wissen, dass sie auf den Schultern von Riesen stehen. Alle Autoren, nicht nur die von Krimis. Du gräbst und gräbst dich durch einen beliebigen Thriller, und die Literaturgeschichte rieselt dir in den Schoß. So ist das. Spannend.
dpr
(Das war die neueste Lieferung einer Reihe mit dem Namen „Denkstapel“, auf den alles geknallt wird, was meiner nervösen Schreibhand gerade so einfällt. Könnte sein, dass dieser Stapel später einmal fein säuberlich abgearbeitet wird… Wer dieses Stapelgekritzel kommentieren möchte, sollte es tun.)