Psychotriller. So, so. Herr Freud kommt aus dem Lachen nicht mehr heraus, und nicht nur das 20., das 19., das 18. Jahrhundert lachen mit, bis in die Jungsteinzeit hört man es glucksen und wiehern.
Dort vielleicht, wo der erste Psychologe vor seiner Höhle sitzt, mag man „Des Todes dunkler Bruder“ von Jeff Lindsay für einen „Psychothriller“ ästimieren. Hat er doch vielleicht, unser erster Psychologe, soeben folgendes Experiment gemacht: Seinen zwanzig Mitbewohnern einmal kräftig in den Hintern getreten, als sie in die Höhle wollten. Und dann hat unser erster Psychologe beobachtet, wie alle zwanzig, als sie das nächste Mal vor dem Eingang standen, sich vorsichtig umschauten und die Hände vor den Hintern hielten. Ursache, Wirkung, Trauma und fortwährender unbewusster somatischer Reflex. Auf diesem Niveau spielt sich Psychologie in Lindsays Roman ab.
Soll sie doch. Unwichtig. Dexter Morgan, Blutexperte bei der Polizei, ist Serienkiller. Ein traumatisches Kindheitserlebnis (aha!) hat ihn dazu gemacht, doch Dexter zerlegt ausschließlich Bösewichte, das hat er seinem Stiefvater versprochen, der auch bei der Polizei war. Dann taucht ein zweiter Serienkiller auf. Er zerlegt wie Dexter, kopiert ihn, fordert ihn heraus. Faszinierend, findet das Original, und weil auch seine Stiefschwester Deborah, die als Polizistin in Nuttenklamotten Freier überführt, Karriere machen will und an dem Fall interessiert ist, versucht Dexter, den Doppelgänger ausfindig zu machen. Gelingt ihm auch. Und, Überraschung: Unser erster Psychologe aus der Jungsteinzeit hatte Recht!
Komisch. Nach etwa 60 Seiten begannen über dem Highway meines lesenden Bewusstseins zwei Namen penetrant zu flimmern, zwei Namen in Neonbuchstaben, und ich konnte mich auf dem Highway so schnell weglesen wie ich wollte, die Namen blieben, das Flimmern blieb. Thomas de Quincey und James Ellroy, James Ellroy und Thomas de Quincey. De Quincey, weil er den klassischen Essay « Mord als schöne Kunst betrachtet » geschrieben hat und unser Dexter seine und seines Doppelgängers Taten unter genau diesem ästhetischen Aspekt begreift und würdigt.
Und James Ellroy? Man erinnere sich. Der wurde zum Kriminalschriftsteller auf Grund eines traumatischen Kindheitserlebnisses, als seine Mutter von einem bis heute unbekannten Täter ermordet wurde. Ellroy hat dieses Ereignis ästhetisch sublimiert. Er hat also irgendwie schon auch gemordet, aber nicht wirklich. Er hat darüber geschrieben, und der Schöpfungsprozess wurde zum Vernichtungsprozess, das unbestimmte Grauen, das in der Seele wütete, nahm Gestalt an, wurde greifbar, angreifbar.
Obgleich der Clou in „Des Todes dunkler Bruder“ ordnungsgemäß erst am Romanende offensichtlich wird, ahnt der aufmerksame Leser, worauf das alles hinausläuft. Er ahnt auch, dass es Lindsay kaum um Psychologie geht – Gott sei dank! – und sein Bestreben auch nichts damit zu tun hat, einen schulmäßigen Thriller zu fabrizieren, der sich dem Leser wie eine Schlinge um den Hals legt, die gaaaanz langsam… na, ihr kennt das Gefühl ja.
Auch wurscht. Irgendwann liest man, weil es sich so schön liest, manchmal grotesk, manchmal komisch, niemals so, dass man ehrlich ins Lachen käme, aber auch niemals so, dass es mechanisch aus einem herausbräche. Eigentlich, so denkt man, hat Lindsay einen Roman über die Obsession des Schreibens geschrieben, einen Roman über das Ungeheuerliche, das da jeder, der zu schreiben anfängt, ins kulturell Wertvolle überhohen mag. Vielleicht auch eine Hommage an Ellroy (nicht zu beweisen) und oder de Quincey (noch weniger zu beweisen). Am Ende jedenfalls, wo es doch hätte ganz dramatisch werden sollen, habe ich wirklich gelacht. Und war auch ein bisschen stolz, weil es genauso gekommen ist, wie ich ahnte.
Aber: Ihr könnt – und ihr solltet! – den Roman auch ganz anders lesen. Sogar als Psychothriller. Ist schon ein besonderer Lesespaß. Und wenn ihr fertig seid, geht ihr in eure Höhlen und fahrt fort, die Wände zu bemalen.
Jeff Lindsay: Des Todes dunkler Bruder. Knaur 2005. 7,95 €