Reginald Hill: Das Dorf der verschwundenen Kinder

Für alle, die bisher von Reginald Hills Krimikunst nur raunen hörten, bietet sich jetzt die preisgünstige Gelegenheit praktischen Nachvollziehens: 636 Seiten „Das Dorf der verschwundenen Kinder“ für 6 €.
636 Seiten? Das mag für manchen schon ein Haken bei der Sache sein. So ausführlich? Gar langweilig?

Gewiss: Hill gehört eindeutig nicht in die Kategorie der kriminalistischen Draufgänger, die an Plot und Stringenz kleben wie die Mücke auf dem Fliegenpapier. Man kann ihn – obwohl der Vergleich gewagt ist – zu den Nutznießern jener Riesen rechnen, auf deren Schultern der bessere Teil der erzählenden Literatur steht: Charles Dickens und Wilkie Collins allen voran. Hier wird, abseits von leseökonomischen Überlegungen (so schnell wie möglich auf den Punkt kommen, in der Kürze liegt die Würze und wie dergleichen lautet) eine Geschichte wie ein Teppich ausgerollt. Dass dabei bei aller erzählerischen Opulenz der Krimiplot nicht abhanden kommt und sich die Fäden am Ende zu einem überraschenden, aber schlüssigen Bild verknotet haben, spricht für Hills Qualitäten.

Der kleine Ort Dendale musste vor 15 Jahren einem ebenso ehrgeizigen wie eigentlich sinnlosen Staudammprojekt weichen. In den Fluten versanken auch die schrecklichen Ereignisse jener Tage: Drei kleine Mädchen verschwanden spurlos, ein dringend Tatverdächtiger ebenfalls. Aber so wie der versunkene Ort in der Erinnerung seiner Bewohner weiterlebt, so auch die verschwundenen Kinder in den Alb- und Tagträumen der Hinterbliebenen. Ein Trauma, das plötzlich an die Oberfläche des nur scheinbar normalisierten Lebens gespült wird, als wieder ein kleines Mädchen nicht nach Hause kommt.

Das bewährte Team um Detective Superintendent Andrew Dalziel übernimmt den Fall, der natürlich in die schreckliche Vergangenheit zurückreicht und alte, schlecht verheilte Wunden aufreißt. Ihm, dem bärbeißig-barocken Diktator, steht, nebst anderen, Peter Pascoe zur Seite, ein eher nachdenklicher und intellektueller Typ, der sich allmählich zum eigentlichen „Helden“ der Geschichte entwickelt.

Hills Kunst des Perspektivwechsels ist erstaunlich. Sie schafft, Kapitel für Kapitel, ein komplexes Psychogramm der beteiligten Personen und beleuchtet die Story aus sehr verschiedenen Perspektiven, ohne sonst übliche Klischees über Gebühr zu strapazieren.

Mit einer Ausnahme allerdings, und das ist nun wirklich der einzige Schwachpunkt des Romans. Pascoes Tochter nämlich erkrankt lebensbedrohlich an einer Hirnhautentzündung und mit einem Schlag erlebt der Ermittler allen Höllenqualen der verzweifelten Eltern des vermissten Mädchens am eigenen Leib, was wiederum dem Leser Einblieb in die schreckliche Seelenlandschaft der Eltern gewähren soll. Genau das ist Hills Absicht – und sie ist zu leicht durchschaubar, zu konstruiert auch, ein Schielen nach Melodramatik, dessen erzählerischer Mehrwert gering bleibt. Hill besitzt wahrlich filigranere Mittel, Emotionen in Bilder umzusetzen. Dass Pascoes Tochter sogar indirekt in den Fall verwickelt ist und einen wichtigen Hinweis zu dessen Klärung liefert, wirkt ebenfalls ein wenig arg gewollt.

Und trotzdem: Wer wie Hill sein Handwerk so souverän beherrscht, darf sich auch mal bei der Wahl seiner Mittel leicht vergreifen. Zumal alles andere stimmig ist. Den Leser erwartet ein psychologisch raffiniertes Konstrukt, spannend und wohldosiert mit „typisch britisch“ genanntem Humor durchsetzt, ein Panoptikum unterschiedlichster Charaktere und Gemütszustände, all das sprachlich vielseitig, stilsicher, schlüssig und flüssig zu lesen. Gerade das Abschweifen in Privates, scheinbar Nebensächliches steckt dabei das Terrain der eigentlichen Kriminalhandlung ab. Es geht, nebenbei, um Kultur, speziell Gustav Mahlers „Kindertotenlieder“, eine Vertonung von Gedichten Friedrich Rückerts, und auch diese überraschende Verbindung passt.

Ja, und das Ende. Als Leser hat man schnell eine vage Vermutung; nicht unbedingt im Hinblick auf den Täter, vielmehr die Richtung betreffend, in die alles streben wird. Und ist am Ende doch überrascht. Das nennt man reichlich guten Stoff für wenig Geld.

Reginald Hill: Das Dorf der verschwundenen Kinder. 
Knaur 2205. 636 Seiten, 6 €

2 Gedanken zu „Reginald Hill: Das Dorf der verschwundenen Kinder“

  1. ich weiss, ich weiss: es ist nicht Aufgabe des Rezensenten, aber interessieren tät es mich schon, ob er eine These zur Erklärung Umfangzuwächse in der Krimi-Produktion hat (die man allenthalben registrieren kann). Die ‚Alten‘ (Dickens, Collins, Sue …) hatten ja technische Gründe, die sie zu ihren riesigen Gesellschaftspanoramen brachten: Fortsetzungsveröffentlichungen in Tageszeitungen und Mehrbänder für Leihbibliotheken (das ändert nichts an den literarischen Verdiensten; die Publikationsmedien sind schließlich Teil der ‚literarischen Kultur). Aber die ‚Neuen‘ (von Connelly, McDermid zu Eckert, und selbst Wolff tut sich unter gut 350 S.)?

    Rätsel über Rätsel. J. L.

  2. Rätsel, lieber J.L., fürwahr,

    man sollte ja meinen, es müsste gerade the other way round gegangen sein. Mit der Hektik der Zeit, die immer weniger wird, verschlanken auch die Krimis zu mager-nervösen Muskel- und Nervenbündeln. Krimis mit Waschbrettbauch. Eine Erklärung mag sein, dass die lieben Loit Bücher suchen, in die sie eine Zeitlang kriechen können. Nicht so’ne Zwei-Tage-Ausflüge, sondern richtig 2-Wochen-Urlaubsreise in einen Text. Kontrastprogramm zum wirklichen Leben. Und die Autoren reagieren drauf. Schätzing hat 1000 Seiten, Hill halt über 600 und wo weiter. Oder doch andersrum? Die Autoren sind unfähig geworden, auf den Punkt zu kommen? Die Beschreibung der Psyche eines depressiven Helden hält zu lange auf? Der Wallander-Effekt: ganz langsam ermitteln, ganz langsam zu Erkenntissen gelangen. A propos: Die beiden alten Schweden, von denen Mankell ja profitiert, haben selten mehr als 200 Seiten gebraucht und eigentlich mehr dabei gesagt.
    Wobei: Auch das Abschweifen hat ja was. Wenn mans kann. Jean Paul, mehr sag ich nicht. Der Großmeister.

    bye
    dpr

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