Sekundärliteratur trägt ihren Makel schon im Namen. Sie steht zurück hinter dem Primären, hält sich im Halbdunkel, während die wirkliche Literatur im Lichte glänzt. Wer braucht sie schon, die Exegeten und Katecheten, die Erbsenzähler und Krittler? Was liefern sie einem? Gut und schön: Informationen. Wenn man sie braucht. Wer einen Krimi liest, braucht sie aber nicht.
Wer einen Krimi liest, unterhält sich mit dem, was auf dem Papier steht, er kriecht in den Text und saugt aus diesem seine Nahrung – oder eben nicht. Interessiert mich etwa die Editionsgeschichte von Friedrich Glausers Romanen? Steigt die Spannung der Story, wenn ich den Lebenslauf des Autors kenne? Kaum. Keine Frage: Wer Krimis liest, liest Krimis.
Wer Sekundärliteratur zu Krimis liest, verspricht sich davon einen Mehrwert, der zunächst einmal nichts mit der direkten Lektüre des „primärliterarischen“ Werkes zu tun hat. Rezensionen etwa, die durchaus auch zum sekundären Bereich zählen, liest man gemeinhin, um sich zu informieren, Zu- oder Abrat zu erhalten. Gewiss kann es vorkommen, dass mir eine Kritik Fakten liefert, die mir bei der Lektüre helfen, Details zu verstehen. Um bei Glauser zu bleiben: Würden wir seine Romane wirklich SO lesen, wenn wir nicht wüssten, wie unendlich dreckig es dem Autor zu Lebzeiten erging? Beeinflusst es das „Atmosphärische“, wenn wir wissen, dass etwa die Darstellung der Irrenanstalt in „Matto regiert“ sich aus eigenen Insassenerfahrungen des Dichters speist?
Das ist ein Sonderfall; keine Frage. Ich muss nach wie vor nicht wissen, was sich Ian Rankin beim Schreiben denkt, oder wie seine schriftstellerische Entwicklung verlaufen ist, wenn ich Ian Rankin lese. Tue ich es trotzdem, habe ich ein allgemeines Interesse an der Sache, die schon weit über bloße Rezeption eines Textes hinausreicht. Ich kümmere mich um – Krimikultur, um die Landschaft, in der Krimis blühen.
Wer über Krimis liest, sammelt Wissen, um das Gelände zu erkunden, aus dem die primären Texte stammen. Zu warnen ist indes vor dem häufig genug gehörten Ratschlag, ein Text erschließe sich einem erst, wenn man zur Kenntnis genommen hat, was andere darüber herausgefunden haben. „Wenn du nicht weißt, dass Glauser in der Klapsmühle war, brauchst du ihn gar nicht erst zu lesen!“ – „Noch nie in Glasgow gewesen und Ian Rankin lesen wollen? Vergiss es!“
Ein Roman, den zu verstehen ich zunächst ein paar Kilo Sekundäres konsumieren muss, kann nicht gelungen sein. Ein Werk, das seine Botschaften unterirdisch transportiert und daher einen wissenschaftlichen Schaufelbagger verlangt, ein solches Werk ist das Papier nicht wert, auf dem es gedruckt ist. Was nicht heißen soll, dass mir Sekundärliteratur keine völlig neuen Blicke auf einen Text schenken kann. Ganz im Gegenteil. Wenn es mir jedoch ohne solche Hilfsmittel das Auge nur vernebelt, wollen wir uns getrost anderem zuwenden.
Sekundärliteratur, kein Zweifel, ist etwas für Liebhaber und Liebhaberinnen des „Genres“, die sich nicht davor fürchten, lesend die Grenzen dieses abgezirkten Bereichs zu verlassen. Denn das geschieht unweigerlich, wenn man gute Bücher über etwas liest. Man liest gleichzeitig über etwas anderes. Ein Buch über Friedrich Glauser wird, will es sein Thema und seinen Sinn nicht verfehlen, etwas über die gesellschaftlichen Verhältnisse in den 30er Jahren erzählen, über die Praxis des Wegsperrens, des Abstrafens, des Brandmarkens. Wer über „Krimi“ allgemein schreibt, ohne über „die Literatur“ zu schreiben, schreibt auch über Krimi nichts (um die →Erkenntnis eines bekannten Kritikers zu variieren, der seinerseits eine Erkenntnis des Komponisten Hanns Eisler variiert hat). So entkommt man dem Korsett des „Krimis“, wie man auch beim Lesen eines solchen, guten aus dem Anziehungsfeld bloßen Thrills gerät und glattweg in eine freie Umlaufbahn um die Literatur, das Leben und die Welt katapultiert wird, um irgendwo über einer noch unentdeckten Landschaft abzustürzen. Schöne Aussicht.
dpr
P.S.: Wer es noch nicht wissen sollte: Literatur über Krimis gibt es im →Nordpark Verlag. Und bei den Alligatorpapieren berichtet →Thomas Przybilka regelmäßig darüber, wer was über wen und was.
Einmal mehr Einspruch, dpr: wenn du stark vereinfachst, Begriffsbestimmungen einfach unter den Tisch fallen lässt und dir kleine Ringkämpfchen mit der richtigen Reihenfolge leistest, fällt mir immer Gary Larsons Cartoonsprache ein: ‚pants first, then shoes‘.
1.) Reiner Mumpitz, ’sekundär‘ als Makel zu definieren. Gemeint ist ’nachträglich‘ (i.e.neutral) und nicht ’nebensächlich‘ (i.e. abwertend). Sollte man eventuell nicht durcheinanderbringen.
2.) Seriöse Sekundärliteratur steht mit Primärtexten nie in einer rangelnden Wettkampfsituation um Position eins.
3.) Man muss sich schon die Mühe machen, wissenschaftliche Sekundärschreibe von minderwertiger zu unterscheiden. Dafür gibt’s klare Kriterien.
4.) Theorie und Kritik mutieren (surprise, dpr!) bisweilen selbst zu literarischen, eigenständigen Primärtexten – und werden als solche geachtet und geliebt.
5.) Lernen ist nicht gesundheitsschädlich, fundierte Sekundärliteratur nicht ansteckend. Gelegentlich kann es zu Hautrötungen (i.e. Fieberbäckchen echter Fans) kommen: weil ein wissenschaftlicher Text, der einen literarischen Text untersucht und dabei manchmal selbst Literatur wird, spannender ist als so mancher Kriminalroman.
6.) Bei allfälligen Zweifeln, ob der linke Schuh vor dem rechten Hosenbein drankommt: schlag nach bei Larson.
nix-für-ungut-Grüße aus der Schneeballfabrik
connie
PS
In welches Paralleluniversum hast du eigentlich den NP verschickt? Na, egal. Vermutlich pinselt dorten gerade jemand einen Eschbach-Einspalter in den Planetenstaub:-)
Hallo Connie,
äh, ratlos. Noch mal meinen Text gelesen. Wo nenne ich Sekundärliteratur „minderwertig“? Meine Eröffnung gibt lediglich in etwas pointierter Form wieder, wie man „Sekundärliteratur“ im Allgemeinen einschätzt, wie überhaupt das Wort „sekundär“. Dass man seriöse von minderwertiger nicht unterscheiden könne – wo behaupte ich das? Darum geht es auch gar nicht in diesem Beitrag. Dass Sekundäres mitunter zu Primärem „mutiert“ – habe ich dem widersprochen? Wo? Überhaupt: Das ist ein Text FÜR Sekundärliteratur. Du darfst natürlich nicht schon nach dem Header zu lesen aufhören, nur weil da der Satz steht, wer einen Krimi lese, brauche sie nicht. Braucht er auch nicht unbedingt, oder? Aber der Rest ist doch ein Plädoyer pro Sekundärliteratur? Oder? Ratlos. Die Post versagt schon wieder? Scheint an Weihnachtsnähe zu liegen, obwohl: Hoffnung nie aufgeben. Der Rekord für eine Büchersendung steht bei 6 Wochen. Also Geduld.
bye
dpr
herrjemine dpr. Deinen typisch dauerironischen Tonfall kopierend, habe ich Schneebälle in deine Richtung gepfeffert, weil ich der Meinung bin, dass dein ‚Plädoyer‘ für Sekundärschreibe schlampig, vereinfacht und unpräzis argumentiert.
Oben drüber prangt die Behauptung ‚Essay‘: mit diesem Begriff verbinde ich einen knappen, geradlinigen Versuch, sich anspruchsvoll und kritisch mit einer Frage/einem Thema auseinanderzusetzen. Einen Essay schreiben ist wissenschaftliches Schreiben (i.e. Begriffsdefinition, Klarheit über die eigene Argumentation, zwingend logische Gliederung…)
Das kann man humorig und meinetwegen dauerironisch tun, so lange man sich formal an das hält, was das Essay zu einer überzeugenden, Klarheit schaffenden Darstellungsform mit Durchschlagskraft macht.
Du nennst Sekundärliteratur in der Tat nirgends ‚minderwertig‘, und verlierst in der Tat kein Wort über die Notwendigkeit, seriöse
Schreibe von eben jener miesen abzugrenzen/in Schutz zu nehmen; oder darüber, welchen Schaden minderwertige Sekundärliteratur anrichtet; oder darüber, dass Sekundäres zu Primärem mutiert, wenn einer seinen literaturwissenschaftlichen Job formal und inhaltlich gut gemacht hat; oder darüber, dass wir Sekundärliteratur in solcher Güte dringend brauchen(…)
Du sagst, darum gehe es in diesem Beitrag ja auch gar nicht – und ich sage, darum wäre es in einem ordentlich geschriebenen Essay zum Thema Sekundärliteratur zwingend, automatisch, dringend gegangen! Na, egal. Was nützt uns ein Plädoyer, wenn der Autor immer noch ratlos die Schuhe anzieht, bevor er zur Hose greift?
Resignierte und garantiert ironiefreie Grüße aus meinem Paralleluniversum
connie
Liebe Connie,
das ist ja alles richtig, was du sagst. Aber glaubst du wirklich, ich könnte hier Woche für Woche zwanzig bis hundertneunzig Seiten Wissenschaft liefern? Das da oben mag nicht deinen Vorstellungen von einem Essay entsprechen. In Ordnung. Meinen entspricht es durchaus. Es ist ein Versuch. Es ist kein wissenschaftlicher Versuch. Er rührt aus dem Wissen her, dass a) Sekundärliteratur zumal in Krimiangelegenheiten als überflüssig angesehen wird, dass b) man tatsächlich Krimis lesen kann, ohne sekundäre Quellen zu konsultieren, dass aber c) gute Sekundärliteratur uns den Horizont öffnen kann. Um nichts anderes geht es in diesem Beitrag, den ich mir gestattet habe, „Freitagsessay“ zu nennen, nicht wissend, dass ich gleich eins mit der akademischen Keule abkriege. Im übrigen arbeite ich tatsächlich an einem richtigen Essay über Krimi, aber ich fürchte, auch damit deine Vorstellungen von wissenschaftlichem Schreiben nicht bedienen zu können. Um es einmal (und dann nie wieder) offen zu sagen, halte ich nur einen Bruchteil dieses „wissenschaftlichen Schreibens“ für sinnvoll, seriös, wichtig, erhellend. Ich sage das als einer, der selbst wissenschaftlich gearbeitet hat und immer noch tut, der über Jahre hinweg alles Mögliche an akademisch Publiziertem zur Kenntnis genommen hat und irgendwann die Spreu vom Weizen trennte. Und gemerkt hat: Hey, das sollte auch anders gehen. Und der das jetzt versucht. Wäre komisch, wenn das jedem gefiele. Und meine Dauerironie ist meine Dauerironie. Die muss auch keiner mögen. Ich mag sie manchmal auch nicht, aber das ist nun mal mein Stil. Ich kann auch anders, aber ich mag nicht. Und das Schöne daran ist: Ich muss auch nicht. Oder nur dann, wenn ich will, dass ich es muss. Sehr schön, das. Für dich nicht, aber das ist, ehrlich gesagt, dein Problem.
bye
dpr
Hallo dpr,
die Frage war nicht, ob du telefonbuchdick schreiben kannst wie die Fussnoten-Fetischisten der sich gegenseitig ‚zitierenden‘ Liga lebenslänglicher Akademiker. Aber ein britisches Essay achtet die Form, ein deutsches eher den Freiheitsdrang des Autors. Das macht mich wütend, aber die Wahl ist ja bekanntlich immmer nur einen Mausklick entfernt.
Gelernt habe ich in diesem Blog, dass Dauerironie alles auf die Ebene intellektueller, unscharfer Blödelei herunterzieht – und es gibt Themen, die möchte ich dort nicht verhandelt/verheizt wissen.
best wishes,
-klick-
Connie
PS
saisonal passend: lese gerade die Wilson A. Bentley Biografie (The Snowflake Man). Das wunderbare Beispiel eines völlig unakademischen Herzblutwissenschaftlers. Falls du mal eine Stippvisite aus dem Krimigenre planst – lohnt sich.
Okay, wir sollten uns nicht weiter streiten, das mit dem Mausklick ist ja auch richtig. Tatsächlich ist es nicht die Form, die mich stört, sondern das Formale, um nicht zu sagen das Formelle. Zuerst die Hosen, dann die Schuhe, so ist das. Auch wenn du mit nackten Füßen im Wasser stehst und es sich lohnen würde, das Wahren der Form für den Augenblick aufzugeben. Ich blödele weiter, du klickst weiter: das ist der Lauf der Dinge.
bye
dpr