Geschenkt: Der Autor ist Einzeltäter, Idealist, manchmal etwas zu salopp in seiner Sprache, ein Lektorat sprengt das Budget. Das Werk erscheint als „book on demand“, Risiko beim Autor, da drückt man wohlwollend ein Auge zu, vielleicht auch mehr, aber nicht beide, bitte. Ein Auge zugedrückt haben dankenswerterweise →Thomas Przybilka und →Jan Christian Schmidt bei ihren Besprechungen von Alex Flückigers „Lexikon der internationalen Krimiautoren“. Und eigentlich wollte ich beide zudrücken, also garnichts dazu sagen, Gründe siehe oben. Geht aber nicht.
Denn allein der Gedanke, zuviel Wohlwollen mache dieses „Lexikon“ zum Standardwerk, ist unerträglich. Schon der Titel nämlich ist irreführend: „Lexikon der von keiner Sachkenntnis beleckten Meinungen Alex Flückigers zu internationalen Krimiautoren“ wäre zwar nicht so elegant, träfe es aber genau. Was zu belegen ist.
Etwa an Flückigers Eintrag zu Edgar Allan Poe. Poe? „Frauengeschichten, finanzielle Nöte, Alkohol- und Drogenexzesse“ – besser kann man sein Leben in der Tat nicht zusammenfassen. Dass der Mann nicht nur Pionier des Krimis, sondern einer der Kirchenväter der modernen Literatur ist, ein fleißiger Essayist, Kritiker, Zeitungsherausgeber – bei Flückiger erfahren wir darüber nichts. Wie auch. Legen wir den Lexikoneintrag zu Grunde, hat Poe lediglich drei „Kriminalnovellen“ geschrieben. Hat er natürlich nicht, schon gar keine Novellen, aber was solls. Dass diese Arbeiten ohne ihre Einbettung in den Kontext des Gesamtwerks kaum zu verstehen sind, ja, dass man damit die Chance verschenkt, den Kriminalroman in seiner historischen Entwicklung überhaupt zu verstehen – Flückiger ist es wurscht. Dafür löst er en passant ein Problem, dem die Forschung seit 150 Jahren auf der Spur ist. Wie starb Poe? Flückiger weiß es: „Er starb 40-jährig an den Folgen einer Alkoholvergiftung.“ Oje. Und müssen wir Poes Werk heute noch zur Kenntnis nehmen? „Poe selber hielt nicht besonders viel von seinen Kriminalnovellen – zu Recht, wie wir meinen.“
Hier ist er, der Meinungsmacher Flückiger, der immer, wenn er „wir“ sagt, sich selber meint. Poe hielt überhaupt nicht viel von seinen Werken, das Spätwerk einmal ausgenommen, und das ist weder bei Schriftstellern unüblich (Kafka!) noch von irgendeiner Bedeutung. Dumm gelaufen für Poe, dass er nicht so „saftig“ (ein Lieblingswort Flückigers) schreiben konnte wie Ian Rankin. Ex und hopp.
Aber Dürrenmatt, den liebt der Schweizer Flückiger natürlich. Sagt er uns auch, warum? Nö. Mit keinem Wort. „Einer der besten deutschsprachigen Schöpfer von Spannungsliteratur aller Zeiten“ ist er, der Friedrich, das soll genügen. Im Weiteren erwarten uns längere Inhaltsbeschreibungen der Krimis, wobei aus dem Protagonisten Bärlach durchgängig Bärloch wird, doch warum wir Flückigers Begeisterung nun teilen sollen – das verrät er uns nicht. Dafür aber etwas, worüber Autoren, Kritiker und Leser grübeln, seit es Krimi gibt: „Weshalb konnte Dürrenmatt dermassen brillante Spannungsliteratur schreiben?“ Wir sind gespannt. „Die Antwort ist einfach:“ Wir haben es befürchtet. „Er war ein exzellenter Schriftsteller, er hatte, wie er selber sagte, Spass Krimis und er wusste genau, was er schreiben wollte.“ So, jetzt wissen wirs. Schweiß abwischen, weiter.
Doch auch der Liebling entkommt seinem Flückiger nicht. „Ewig schade, dass er so viel Zeit mit Theater und Malerei vertändelt hat.“ – Schäm dich, Friedrich!
Das mag ja alles noch zum Schmunzeln oder Staunen oder sich Ärgern sein. Jetzt aber wird es fürchterlich. Auftritt James Ellroy. Der gilt, wie man weiß „als Kultautor – und wir wissen nicht so recht warum.“ Aber eine Meinung hat er dann doch:
„Denn nicht ein einziger der geschmacklosen, frauenfeindlichen, offen rassistischen, absolut humorfreien, von eindimensionalen (gewalttätigen, zynischen und/oder korrupten) Gestalten bevölkerten Romane des Grossmauls ‚Wenn ich religiös bzw. musikalisch wäre, dann wäre ich Gott bzw. Beethoven‘ James Ellroy kann auch nur den niedrigsten literarischen Ansprüchen genügen.“
Da bleibt einem die Spucke weg und ein Verdacht, den man leise in der Brust hegte, wird nun bittere Gewissheit: Flückiger hat nicht den blassesten Schimmer von dem, was er da tut. Er redet von „literarischen Ansprüchen“ und weiß nicht, was Literatur ist. Er weiß nicht zwischen dem Werk und der Wirklichkeit, dem Autor und seinem Personal zu unterscheiden, ja, er hat das, was er da niedermacht, wahrscheinlich nicht einmal gelesen, und hat er es gelesen, wird das, was er darüber schreibt, noch unverständlicher. Hier, mein Lieber, hört das Wohlwollen auf.
Belehren, denunzieren, Belege schuldig bleiben – das ist das durchgängige Charakteristikum dieses „Lexikons“. Da schreibt Charles Todd „mit übersinnlichem Kram garnierte Prosa“ – völliger Unsinn. Bernhard Schlinks Spezialität ist „Nazi-Vergangenheits-Gedönse“ – damit wird zugleich alles denunziert, was mit Mitteln des Krimis Klärung verschaffen will. Ach, man könnte seitenlang weitermachen, aber es ist genug. Hier ist einer gescheitert. An seiner Aufgabe, an seiner Disziplin als Lexikonschreiber, an seiner Unkenntnis der Materie. Nichts gegen Meinungen. Ein Lexikon, das die Rezeptions- und Wirkungsgeschichte der Kriminalliteratur mit einbezöge, bleibt ein Desiderat. Es zu realisieren, bräuchte man ein komplettes Redaktionsteam, viel Zeit, viel Idealismus, ein bisschen Geld. Darauf können wir noch lange warten. Aber ohne Alex Flückigers Lexikon, bitte.
chottverdonner:
BÄRLACH (ni Berloch ni Berlach)
s. rororo 448, 1961, S. 7 und passim
(serendipitös fand sich nach langem Suchen der D. zwischen Andersch und K. Kraus)
Sie haben Recht, lieber J.L. Bärlach, Bärlach, Bärlach. Wird geändert.
bye
dpr
sehen Sie, lieber dpr, so produzieren wir Atheisten Sinn: wir ändern die Welt.
Beste Grüße!
Bei uns Atheisten funktioniert das Lektorat halt noch. Im Gegensatz zum „unordentlichsten aller Bücher“ (nee, nich dies Lexikon; und wen zitiere ich da? Na, na?)
bye
dpr
Zugegeben, Herr Flückiger ist, wie die Beispiele zeigen, wohl unbeleckt von jeder literarischen Kenntnis (leider ist das bei Krimikonsumenten nicht selten der Fall), aber ist der Ellroy mit seinen manirierten Bumm-Bumm-Sätzen nicht ab und zu mal unfreiwillig komisch?
Hallo, man muss Ellroy nicht mögen, man kann seine Entwicklung kritisch verfolgen, man kann ihn auch ablehnen. Aber nicht mit dieser „Argumentation“. Dass es in Ellroys Romanen etwa um Rassismus geht, dürfte klar sein. Daraus folgernd jedoch die Romane selbst „rassistisch“ zu nennen, ist denunziatorisch und dummdreist. Tut mir leid, aber schonender kann ich es wirklich nicht sagen.
bye
dpr
Hallo dpr,
freilich man muss Ellroy nicht mögen. Aber in der Tat, die von Dir zitierte Stelle ist die Aussage eines Dilletanten.
Ellroy beschreibt ohne Frage eine weiße, männliche Welt, aber ihm deshalb Rassismus und Chauvinismus zu unterstellen, ist zumindest naiv.
Wenn man es korrekt machte, würde der Autor versuchen seine These am Werk zu verifizieren und spätestens dann würde ihm auffallen, dass die meisten von Ellroys Büchern von sehr starken Frauenfiguren geprägt sind.
Wenn man sich diese grobschlächtig wirkenden Protagonisten in den Büchern genauer anschaut, wird man auch sehen, dass sie in der Tat ein verletztliches Seelenleben haben, welches sie eben hinter Ihrer Gewalt zu verstecken suchen.
Und dass die Gewalt in den Büchern Ellroys das große Thema ist, kann man ihm, angesichts dessen dass er sehr früh im Leben, durch ein nie aufgeklärtes Gewaltverbrechen seine Mutter verlor, nicht unbedingt vorwerfen. Wie gesagt es muss einem nicht gefallen, aber man muss seine Fakten richtig würdigen.
Und von „niedrigsten literarischen Ansprüchen“ zu sprechen, sprengt dann sowieso jeden Rahmen. Ellroy behauptet dass er eine „Apotheose“ (wenn Atheisten schon auf den Putz hauen) der amerikanischen Sprache abliefert. Wer die Bücher Ellroys im Original gelesen hat, wird dem seine Zustimmung nicht ganz verweigern können. Sein Wortschatz ist so, dass auch Amerikaner von einem Glossar profitieren.
Und, nota bene, nach dem LA-Quartett, hat Ellroy auch wiederholt betont, dass er keine Noirs mehr schreibt. Seine jetzigen Werke, soweit zwei, bezeichnet er als „history noir“.
Davon abgesehen, wäre diese Analyse des Gefüges der Protagonisten in LA-Confidential eine längere Einlassung wert. Nur soviel: In welchen Krimis, vorher oder nachher, gab es ein so komplexes Mit-, Neben- und Gegeneinander zwischen den Personen, eine so diffuse Bruchlinie zwischen Gut und Böse und eine so stimmige Aufarbeitung verschiedenster Verbrechen in einem Buch.
Hallo, Bernd,
der Knackpunkt ist der: Lexika wie das besprochene mutieren mangels Alternative zu Standards und prägen das Bild, das man bei oberflächlicher Betrachtung von jemandem gewinnt. Wer Ellroy nicht kennt, wird ihn nach Zurkenntnisnahme des „offiziellen Lexikonartikels“ nicht mal mehr mit der Feuerzange anfassen. Ich verstehe ja all das Wohlwollen, das man solchen Projekten entgegenbringt. Aber irgendwo muss Schluss sein damit.
bye
dpr
Moin,
den Ärger über dieses „Lexikon“ kann ich gut verstehen. Ich habe es noch nicht in den Händen gehabt, aber nach Deinen Zitaten scheint es absolut schlecht zu sein. Die Gefahr, dass ein solches Machwerk allerdings zu einem Standart avanciert, halte ich für gering. Wer kennt heute noch das „Krimi-Lexikon“, herausgegeben von Klaus-Peter Walter, das damals im renommierten Reclam-Verlag erschienen ist? Das war auch ziemlich schaurig, wenn auch aus anderen Gründen. Mittlerweile wird es beim Resteverwerter verhökert.
Wenn ein Einzelner sich anschickt, ein Lexikon zur „internationalen Kriminalliteratur“ zu verfassen, ist das schon von Anfang an zum Scheitern verurteilt. Das Thema ist so umfassend, dass dies einer alleine gar nicht aufbereiten kann. Selbst im anglo-amerikanischen Raum haben solche Lexika zum Teil erhebliche Lücken oder sie beschränken sich auf einen eingegrenzten Zeit- oder Sprachraum.
Dass im deutschen Sprachraum ein solches „Krimilexikon“ fehlt, ist bedauerlich. Selbst das „Lexikon der Kriminalliteratur“, das seit Jahren als Loseblattausgabe in Fortsetzungen erscheint, weißt erhebliche Lücken auf, wie man im aktuellen Inhaltsverzeichnis sehen kann.
Viele Grüße
Ludger
Hallo Ludger,
leider wahr: ein(e) Einzelne(r) muss scheitern. Es ist nur ein Unterschied, ob er/sie ehrenvoll scheitert oder nicht. In erstem Fall kann man so ein Projekt wohlwollend kommentieren.
Die Gefahr, dass dieses „Lexikon“ Standard wird, mag tatsächlich gering sein. Für einige wirds das aber gewiss, zumal wenn Bibliotheken das Ding anschaffen und sich etwa die Meinung über Ellroy (er ist das unfassbarste Beispiel; es gibt viele andere) sich per unkritischer Übernahme fortpflanzt. Dagegen wäre dann auch seriöse Sekundärliteratur machtlos, weil sie noch weniger gelesen wird als irgendwelche Krimilexika. Aber ein „Krimilexikon der Wirkungs- und Rezeptionsgeschichte“… fast schon wieder ein neues Projekt…nee, nee, jetzt sind mal andere dran.
bye
dpr
S. Prüfungsfragen oben (hier wird alles beantwortet):
„Der Verfasser“, so lese ich auf S. 266, „beschäftigt sich intensiv mit James Joyce und Arno Schmidt“. Na denn.
Ansonsten vielleicht Joh. 20, 11-18.
Joyce auch noch? Sie schrecken auch vor garnix zurück!
bye
dpr
Prof. Vogt von der Uni Essen arbeitet mit verschiedenen internationalen Hochschullehrern an einem Lexikon. Bis es erscheint, dürften noch Jahre vergehen.
Kann es sein, dass die Computer und die Textverarbeitung WORD nicht nur die natürliche Scheu vor dem Verfassen größerer belletristischer Texte verschwinden ließen, sondern auch zur sinnlosen Anhäufung und Verbreitung wertloser Informationen, genannt Lexikon, beitrugen?
Da sprechen Sie ein ketzerisches Wort gelassen aus, lieber Herr Booß,
und ich kann Ihnen noch nicht einmal vehement widersprechen, was ich natürlich sehr gerne täte. Sagen wir es so: Die Masse des Unnützen potenziert sich ins Maßlose, aber die Chance auf Nützliches wird wenigstens auch minimal höher. Daran sollten wir uns aufrichten. Wenn ICH Verleger wäre, wüsste ich schon, was ich zu tun hätte…
bye
dpr
Wenn jemand ein Lexikon bei „books on demand“ herausgibt, heißt das im Klartext, dass er für sein Werk keinen ordentlichen Verlag gefunden hat, weil nämlich niemand das Machwerk Ernst nimmt.
Deshalb steht kaum zu befürchten, dass das sogenannte „Lexikon der Kriminalliteratur“, wie oben besprochen, jemals ein Standardwerk wird.
Auch Bibliotheken schaffen im allgemeinen keine „books on demand“ an. Sie haben einen begrenzten Etat, den sie nach genauer Prüfung sinnvoll investieren.
Mit freundlichen Grüßen
Olivia Kroth
BoD als letzte Chance für Machwerke – das mag in vielen Fällen zutreffen, kann aber nicht verallgemeinert werden (ich verweise auf Jens Luckwaldts „Tod in Arkadien“, eigentlich eine Zierde jedes deutschen Krimiverlags, dort aber schnöde und kenntnislos zurückgewiesen). Oder man nehme Pentti Kirstilä, dessen Romane jetzt mit knapp 30jähriger Verspätung veröffentlicht werden und, wer weiß, vielleicht auch mal als von Enthusiasten veranstaltete BoDs herausgekommen wären, hätte sich der Grafit Verlag nicht verdienstvollerweise erbarmt. Nee, manchmal bezeugen BoD-Veröffentlichungen auch ganz schlicht die Schlafmützigkeit unseres Verlagswesens.
bye
dpr