David Peace, 1977, Notizen zwei

Es fehlt in keiner Besprechung: “1977” ist die, wenn auch ziemlich freie Umsetzung der authentischen Verbrechen des “Yorkshire Killers”. Peace selbst weist darauf hin, wie sehr ihn dieser Fall als Jugendlicher beschäftigte und zu einem gewissen Grad wohl auch traumatisierte. Andererseits: Selbst Leeds 1977 war nicht mit Yorkshirekillern überfüllt, ganz zu schweigen vom langweiligen Rest der Welt.

Was also ist die „Wirklichkeit“ von „1977“? Sie liegt versteckt in all den Gewaltorgien des Buches, dünne rote Fäden in einem Strom aus Blut, schon deshalb kaum wahrzunehmen. Es gibt, wenn ich das bisher (nach ca. 300 von 400 Seiten) richtig sehe, drei solcher Fäden von „normaler Wirklichkeit“ in „1977“.

Der erste betrifft das historische Ereignis des 25jährigen Thronjubiläums der Queen. Es ist, wenn auch nur in lapidaren Kommentaren und Nebensätzen, stets präsent, und diese Orgie aus Prunk und Pathos und heiler Welt scheint durch die Vorhänge des Ekels, die das Buch verhängen.

Der zweite Faden zieht sich durch das Privatleben eines der Protagonisten, des Polizisten Fraser. Verheiratet, ein kleiner Sohn – und einer jungen Prostituierten hörig. Als die ihn verlässt, versucht Fraser in seine heile Familienwelt zurückzufinden. Mit Frau und Kind unternimmt er einen Ausflug, und die wenigen Seiten, auf denen der geschildert wird, sind die einzigen des Buches, die so etwas wie Alltagsleben der harmoniebedürftigen Art vermitteln.

Der dritte Faden schließlich ist der am feinsten gewobene. Jedes Kapitel wird mit einem kurzen Dialog aus der „John Shark Show“ von Radio Leeds eingeleitet, in dem sich Moderator und Anrufer über alle möglichen Themen – Thronjubiläum, Kriminalität und Todesstrafe, Einwanderer – auslassen.

Die Wirklichkeit ist also gleich dreimal fragmentarisch, aber auch exemplarisch vorhanden: als übergeordnetes Struktursystem, private Norm und Querschnitt durch die Alltagsobsessionen von Alltagsmenschen. All das funktioniert indes nur, weil das Abgründige des Verbrechens mit dem Abgründigen der Verbrechensbekämpfung ausgetrieben wird, ziemlich drastisch, aber prinzipiell nicht anders als in Hammetts „Red Harvest“. Ein typischer noir also, was nun keine besonders originelle Erkenntnis ist, ein noir allerdings, der auf der Kippe steht, weil ihn das blanke Spektakel zu verschlingen droht. Eine Schwäche des Textes? Oder des Lesers? Dazu mehr im dritten und abschließenden Teil der Notizen (den ersten kann man → hier nachlesen).

6 Gedanken zu „David Peace, 1977, Notizen zwei“

  1. Kleine Ergänzung: Die Morde, die in „1977“ geschildert werden, haben alle reale Vorbilder, allerding sind sie nicht innerhalb der kurzen Zeitspanne des Romans (Frühjahr – Sommer 1977) passiert, sondern über mehrere Jahre verteilt.

    Die erwähnte Radioshow ist ebenfalls einem realen Vorbild nachempfunden. Laut Peace hat wohl seine Schwester dort ab und zu mal angerufen.

    Bleibt die kollektive Hysterie, die es laut Peace gegeben haben soll. Die ist natürlich in der Wirklichkeit (wessen Wirklichkeit?) schwer fassbar. Ebenso die Gewaltexzesse der Polizisten.

  2. Exakt, Ludger. Natürlich ist die Wirklichkeit des Romans eine drastisch zugespitzte und das Ganze keine Reportage über den Yorkshire Ripper. Was mich besonders interessiert, ist die Frage, ob ich mich von der zwangsläufig vorgegebenen Lesart (Sex, Gewalt etc.) lösen und auf eine, na, sagen wir mal: normalere gehen kann. Was steckt hinter all diesen Exzessen? Momentan taste ich mich noch vor und weiß auch nicht, welches abschließende Urteil ich fällen soll. Aber das ist ja das Faszinierende an guten Büchern.

    bye
    dpr

  3. Ich habe 1974 im Original gelesen und fand das dauernde F*ck und Sh*t schon ein bisschen ermüdend. Ich habe denselben Eindruck wie du, dass unter der Oberfläche des Ultraharten etwas anderes schlummert, aber erstens habe ich doch etwas mit dem Umgangenglisch gekämpft und zweitens war ich des Grabens am Ende etwas leid. Ob ich 1977 lese, weiß ich nicht. Lieber hole ich erstmal Ellroy nach.

  4. Hallo Jürgen,

    ich bin, was „1977“ betrifft, tatsächlich „zerstückelt“. Natürlich ist Peace selbst dafür verantwortlich, wenn man seine Romane mit diesen dummen Etikettierungen versieht a la „Härter gehts nimmer“. Die Frage ist, wie weit ich mich als Leser durch diese Schicht arbeiten soll, um darunter vielleicht eine weit feinere auszumachen. Der Vergleich mit Ellroy ist hier naheliegend. Der gilt ja ebenfalls als „extra hardboiled“, was aber ein großes Missverständnis ist, meiner Meinung nach. Stilistisch ist er noch radikaler als Peace, noch obsessiver, aber auch variantenreicher. Dass man Ellroy heutzutage für ziemlich „out“ hält, ist zum einen Folge diese Fixierung auf das augenscheinlich Radikale, das dann natürlich schnell müde macht, zum anderen Resultat der weitgehenden Ignorierung der „inneren Schichten“ seiner Bücher. So gesehen sind beide, Autor wie Leser / Kritiker“ nicht schuldlos an diesem Stand der Dinge. Der Autor, weil er zu plaktative Oberflächen gezeichnet hat, der Leser / Kritiker, weil er sich weitgehend damit begnügt hat.

    bye
    dpr

  5. Hallo dpr,

    „Dass man Ellroy heutzutage für ziemlich „out“ hält, ist zum einen Folge diese Fixierung auf das augenscheinlich Radikale, das dann natürlich schnell müde macht, zum anderen Resultat der weitgehenden Ignorierung der „inneren Schichten“ seiner Bücher.“

    kann es nicht sein, dass Ellroy nur deshalb „out“ ist, weil er sich ein wenig ins Abseits gespielt hat. Nach dem LA-Quartett hat er mit „american tabloid“ einen Weg in die „literarische Obsession“ beschritten. Dieser Weg lässt sich zwar logisch aus dem Werk zuvor ableiten, aber die Behauptung Ellroys keine Krimis mehr zu schreiben, wird wohl vom Publikum geteilt. Und dafür goutieren wir einfach zu gerne das Neue. Seine („zudem noch sperrigen“) Bücher sind halt genauso alt wie der Fall der Mauer.

    Beste Grüße

    Bernd

  6. …wobei ich allerdings glaube, lieber Bernd, dass das Ellroysche Spätwerk bei der aktuellen Beurteilung ziemlich ausgeblendet wird. Dieses „Out“ scheint sich, wenn ich richtig beobachte, eben auf die grellen Seiten der Bücher zu beziehen, die ihn populär machten. „Der mit der Brutalität“ eben, wie Peace. Die neueren Sachen nimmt man, da hast du recht, aus den von dir genannten Gründen nur noch am Rande zur Kenntnis, aber ein Grund ist wohl auch, dass man Ellroy als ein „one trick pony“ abbestempelt hat. Zu Unrecht. Und das könnte Peace auch blühen. Ebenfalls zu Unrecht?

    bye
    dpr

    bye
    dpr

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert