Ich möchte endlich einmal einen Krimi lesen, der nichts aufklärt. Einen Krimi, der mich verwirrt, die Wirklichkeit als Fiktion entlarvt und die Fiktion als Wirklichkeit. Ein Buch, bei dem ich selbst entscheide, ob es Krimi ist. Einen Text, der nur eine ermittelnde Instanz kennt: mich, den Leser. Ach ja: Ich habe dieses Buch gelesen. Mehrmals schon.
Krimi heißt Spannung. Das ist der kleinste gemeinsame Nenner. Und Spannung heißt etwas nicht wissen, uns von Ereignissen bedroht fühlen, die sich nicht einordnen lassen. Ich weiß nicht, warum jemand was getan hat, ich weiß nicht, wie sich alles aufklärt, aber ich weiß, dass es sich aufklären wird. Denn ich lese ja einen Krimi.
„St. Petri-Schnee“ von Leo Perutz beginnt wie ein Krimi: mit einem Rätsel. Der junge Arzt Amberg erwacht im Bett eines Krankenhauses, in das man ihn – vor Tagen? vor Wochen? eingeliefert hat. Vor dem Göttinger Hauptbahnhof, erzählt man ihm, sei er Opfer eines Verkehrsunfalls geworden. Ambergs Version ist eine andere. Er erinnert sich, von Göttingen aus zu seiner neuen Arbeitsstelle als Landarzt gereist zu sein, wo ihn nicht nur leidenschaftliche Liebe, sondern auch ein monströser Plan erwartete.
Für den Leser ist diese Konstellation ein Angebot. Er kann sich entscheiden, ob er Ambergs Erinnerungen, mit denen jener nun die jüngste Vergangenheit beim Gutsherrn Baron Malchin beschwört, für Wirklichkeit oder einen Fiebertraum hält. Er wird wohl letzteres tun, denn die Indizien für diese Version sind eindeutig. Amberg hat sich vor einem Jahr in eine Kollegin, die Chemikerin „Bibiche“ verliebt, sie dann aus dem Augen verloren und erst beim Baron Malchin wiedergefunden, in dessen Laboratium sie einer dämonischen Beschäftigung nachgeht. Kurz vor dem Unfall erblickt Amberg im Schaufenster eines Geschäfts das Bildnis eines Mannes sowie ein Buch über den Niedergang der Religiosität. Beides wird er in seinem Wahntraum verarbeiten und die Liebe zu Bibiche wird erfüllt werden, wie das in Träumen nun einmal so zu sein pflegt.
Wer sich für diese Version entscheidet, entscheidet sich gegen den Kriminalfall als Teil der Wirklichkeit. Was Amberg nun erzählt, ist Ausgeburt seiner Phantasie: Baron Malchin betreibt die Wiederkehr der Religiosität, der Stauferherrschaft. Gemeinsam mit Bibiche hat er eine Droge namens „St. Petri-Schnee“ entwickelt, die dies bewirken soll. Die Dorfbewohner werden zur Experimentiermasse, doch der Versuch endet fatal: Wohl beginnen die mit „St. Petri Schnee“ manipulierten Dorfbewohner fanatisch zu glauben – jedoch nicht an Malchins „Religion“ – sondern an den Kommunismus. Sie erheben sich, Malchin stirbt, Amberg wird beim Versuch ihn zu schützen verletzt.
Die Hypothese des Lesers, es handele sich bei dieser Geschichte nicht um „Wirklichkeit“, ist längst ins Wanken geraten. Was Perutz hier erzählt, wie er den Kommunismus als „Religion“ entlarvt, das IST Wirklichkeit. „St. Petri-Schnee“ wurde 1931/32 geschrieben und war für Anfang 1933 zur deutschen Veröffentlichung vorgesehen. Dazu kam es nicht mehr; ein anderer Religionsersatz hatte ihren St. Petri Schnee rieseln lassen, der Jude Perutz, in den zwanziger Jahren einer der beliebtesten Autoren des Landes, war geflohen.
Vollends ins Grübeln kommt der Leser am Schluss des Romans. Bis dahin dürfte das Konstrukt aus Realität und Fiktion etwa so beschaffen sein: Amberg hatte einen Unfall, die Geschichte des Barons und seiner Erfindung ist Phantasie, aus der sich die historische Wirklichkeit Ideologie = Religion beinahe allegorisch herausschälen lässt. Am Ende aber besucht der Pfarrer des Dorfes, das sich Amberg ja angeblich zusammenphantasiert hat, den kranken und bestätigt seine Version der Wirklichkeit. Er weiß auch, warum man Amberg in dem Glauben lassen will, er habe sich alles nur erträumt. Die Sache mit dem St. Petri Schnee und seinen unerwarteten Folgen soll aus politischen Gründen vertuscht werden.
Das ist eine plausible Erklärung, die die Lesererwartungen auf den Kopf stellt und das Gespinst Wirklichkeit endgültig als etwas Unfassbares ausweist. Ist etwa diese Wirklichkeit des Krankenhauses und seiner rationalen Erklärungen auch nichts weiter als ein Trugbild?
„St. Petri-Schnee“ mag kein Kriminalroman im herkömmlichen Sinne sein, er arbeitet mit Spannungs- und dramaturgischen Versatzstücken, das wohl, und hier erweist sich Perutz als ein dermaßen souveräner Konstrukteur, das man ihn jedem heutigen Verfasser von „Spannungsliteratur“ als Lehrstoff ans Herz legen kann. Schweigen wir ganz von Perutz’ Kunst des Erzählens, seiner genau gesetzten Sprache und den technischen Kniffen (Es gibt etwa eine Passage, in der Perutz Wirklichkeit und Phantasie durch das Verschwinden- und wieder Auftauchenlassen von Personen sowie abrupte Ortswechsel in einer Gesprächsszene meisterhaft verzahnt.)
Auf der Ebene der Behandlung von Wirklichkeit und ihrer Bewertung ist „St. Petri-Schnee“ geradezu ein mustergültiger Kriminalroman. Er bringt uns dazu, unser Nichtwissen um die Wirklichkeit einzugestehen, mit ihm gedanklich zu arbeiten, Versionen von „Wahrheit“ durchzuspielen, uns geradezu detektivisch mit sogenannten Fakten und ihrer Wertung zu beschäftigen. Aufgeklärt wird in „St. Petri-Schnee“ nur eines: das Verbrechen, das wir an der Wirklichkeit begehen können, wenn wir sie als eine objektive und zweifelsfrei zu deutende Instanz begreifen.
Die Romane von Leo Perutz sind heute als Taschenbücher bei dtv lieferbar. Empfohlen sei auch „Zwischen Neun und Neun“, ebenfalls eine Zertrümmerung von Wirklichkeit, vom Erzählerischen eher noch reifer als „St. Petri -Schnee“, was kaum möglich scheint.