Und noch eine kleine Sommerserie: Kurze Überlegungen zur Geschichte der Spannung in Kriminaltexten. Vieles ausbaufähig, das meiste skizzenhaft. Keine Angst: Gibt keine Heftchen.
Monoton ist es schon, das Retten der alten Krimis. Scannen und oder abschreiben. Aber auch irgendwie erhebend. Man rettet kein Menschenleben, aber immerhin ein Bücherleben. Und lernt etwas dabei. Nicht nur über die alten, auch über die neuen Krimis, deren Spannungstechniken auf einmal nicht mehr so selbstverständlich daherkommen, wenn man weiß, dass es früher andere, durchaus nicht schlechtere Strategien gegeben hat, Spannung zu erzeugen.
Altes lesen macht also sensibel beim Neuen. Es ist heutzutage guter Brauch, Krimis auf das Ende zu zu schreiben. Man hat eine Auflösung und stellt den restlichen Text ganz in deren Diensten. A. muss es gewesen sein, weil — jetzt folgt eine logische Begründung, die meistens etwas mit „Psychologie“ zu tun hat — und der Leser, die Leserin muss, in Kenntnis der Auflösung, diese „nachvollziehen“ können.
Ein schönes Beispiel ist Camilla Läckbergs „Der Prediger von Fjällbacka“, dessen Auflösung in verblüffender Weise der von Stieg Larssons „Verblendung“ ähnelt. In beiden Fällen ist der Täter „wahnsinnig“, und dieser Geisteszustand wird im Nachhinein logisch begründet.
Nur ist natürlich diese Logik eine sozusagen werkimmanente. Von hinten wird die Story nachvollziehbar, mag sie, „von vorne gelesen“, auch noch so hanebüchen sein.
Ein kurzes Beispiel zur Verdeutlichung, losgelöst von den konkreten Texten. Ein Serienmörder (darunter tut man es in Schweden bekanntlich nicht) stattet seine Opfer post mortem mit Windeln aus. Klarer Fall: Ein Wahnsinniger, ein Perverser. Der Autor, die Autorin führt uns nun auf 4-500 Seiten normale Menschen vor, die es alle gewesen sein könnten. Wichtig: Sie müssen normal sein, denn eine Grundannahme in solchen Krimis ist stets die, Wahnsinn sei etwas im Verborgenen Blühendes, das im Alltag perfekt kaschiert werden könne.
Die Auflösung: Der Täter war in seiner Kindheit Bettnässer, was ihn traumatisiert hat. Sofort werden dem Leser die Zusammenhänge klar und er winkt die Geschichte als „logisch begründet“ durch. Der Autor, die Autorin geht dabei kein Risiko ein. Er oder sie hat ja nicht behauptet, jeder Bettnässer werde zum Serienkiller. Er oder sie brauchte lediglich ein beliebiges und eben sofort als logisch durchgehendes Motiv für den Wahnsinn des Täters. Wüsste der Leser von Anfang an, dass Bettnässen hier als Auslöser von Mord und Perversion dienen soll, würde er das Buch wohl als „Mist!“ in die nächste Ecke pfeffern.
Bei alten Krimis, dies zum Abschluss, fehlt dieses „von hinten nach vorne Schreiben“ fast völlig. Es entstand wohl erst mit jenem Prototypen der meisterhaften Detektion, der unsterblichen Figur des Sherlock Holmes. Das ist aber eine andere Geschichte, die heben wir uns fürs nächste Mal auf.
glauben Sie das wirklich, lieber dpr, daß es Leser gibt, die das (Bettnässen > Wahnsinn > Serienmord) durchgehen ließen, ohne daß der Text eine zusätzliche Motivations-Unterfütterung anböte (die im Zweifel nicht explizit gemacht werden müßte)?
Lieber Herr Linder,
ich habe geschrieben: „Der Täter war in seiner Kindheit Bettnässer, was ihn traumatisiert hat.“ Dieses Traumatisiertsein wäre hier als Verkürzung der von Ihnen reklamierten Motivationsunterfütterung zu sehen. Vielleicht ist der Täter als Kind wegen seiner Inkontinenz verprügelt worden etc.
Tatsache ist, dass etwa in Läckbergs „Fjällbacka“ das Motiv des Täters „von hinten gelesen“ stimmig zu sein scheint. Man nickt es ab. Liest man aber von vorne, d.h. fragt sich, ob aus Tatsache X (die ich -Spoiler! – hier natürlich nicht nennen darf…) Tatsache Y folgt (Serienmord, of course), kann man nur lachend abwinken. Woran das liegt? Nun, das überlege ich auch gerade…
bye
dpr
Noch ganz schnell etwas zur „Motivation“: In „Fjällbacka“ ist es ein simpler Schockzustand, der alles auslöst. Aber die Autorin setzt noch eins drauf, nein, sogar zwei…Ach, ich schick Ihnen jetzt einfach eine kurze Mail…
bye
dpr
ich kenne den Text nicht, über den Sie, lieber Herr Rudolph, reden — und reite deshalb einfach (durch Nacht und Wind) mein Steckenpferd: ich kenne kaum einen SK-Text, in dem es nicht auch darum ginge, daß der Täter sich selbst ausdrücken (als Urheber erfinden) möchte. Meine Vermutung: die Nietzsche-Wulffensche Genie-Wahnsinn/Kunst-Verbrechen-Affinität ist eine der Konstituenten des Sub-Genres, das wir für so selbstverständlich halten, daß wir es nicht mehr wahrnehmen. Aber zugegeben: Mehr Spekulation als Wissen. Grüße!
Das liegt nahe, lieber Herr Linder. Was mich aber fasziniert ist der Umstand, dass ein Roman wie „Fjällbacka“ so hoch gelobt wird, obwohl die Auflösung plus vorgeschalteter „logischer Motivkette“ dermaßen hanebüchen ist, wenn man sich die ganze Bescherung vom Anfang an anguckt. Frau Läckberg hat aus gutem Grund das Ganze nicht als „Psychogramm eines Wahnsinnigen“ geschrieben und diesen „Wahnsinn“ logisch entwickelt, sondern – dramaturgisch clever – die Logik von hinten aufgedröselt. Die LeserInnen werden durch ein dramatisches Finale geschickt, das natürlich auch ablenkt. Vielleicht winkt man dann alles durch, was dem schlichten Ursache-Wirkung-Schema entspricht.
bye
dpr
„Der Täter war in seiner Kindheit Bettnässer, was ihn traumatisiert hat.“
Ich dachte gerade, das hast Du jetzt erfunden …
Von hinten nach vorne kann man aber auch schreiben, weil man ganz andere Szenen im Sinn hat als die amtliche Bekanntmachung der Täterperson. Ich habe mal eine ganzen Roman nur wegen einer einzigen Idee/Szene geschrieben, die aber kaum zu tun hatte mit der Frage „Wer war es“. Die ist eh so langweilig. Im Gegenteil habe ich da im letzten Moment, sprich, einen Tag vor der Deadline, den Täter noch geändert, weil mir so war. Oft gibt es andere Logiken als jene, welche Befindlichkeit warum zum Täter führt.
Na ja, sieht jeder anders.
Die ungeschminkte Wahrheit, liebe Astrid: Ich habs erfunden. Aber nur, weil ich hier ja keine Spoiler produzieren darf, denn im „Prediger von Fjällbacka“ ist es eigentlich noch viel schlimmer / schöner / irrer.
So, so, du also auch. Soll ich raten? Sterntaucher? Na, egal. Und das mit der anderen Logik unterschreibe ich dir jederzeit. Du als gelernte Psychologin musst es ja wissen.
bye
dpr
Gelernte Psychologen: Beckmann, Hahne, Fliege. Das reicht.
Richtig geraten obendrein.
„gelernte Psychologin“ klingt für mich immer wie „Diplomdichter VHS“. Die Prüfung erfolgte nach dem multiple-choice-Verfahren.
SO…und jetzt noch schnell die Szene suchen…sollte was mit dem Titel zu tun haben…
bye
dpr
die zeichnung!
*biegt sich vor lachen