Die Literatur, stellt Mario Conde am Ende fest, sei eine einzige große Lüge. Die Literatur ist aber auch die Wirklichkeit. Und die Wirklichkeit Literatur. Was die Sache mit der Lüge relativiert. Wenn nämlich alles Lüge ist, dann auch die Wahrheit, und wenn alles wahr sein kann, dann die Lüge allemal auch. Mario Conde weiß das, weil sein Schöpfer Leonardo Padura es weiß. Und mit „Adiós Hemingway“ einen wunderbaren kleinen Roman darüber geschrieben hat.
Ernest Hemingway hat sich, was unter Dichtern keine Seltenheit ist, sondern die Regel, zeitlebens selbst inszeniert. Stierkampfbesessen, vom Krieg fasziniert, weil Stierkampf und Krieg sämtliche Selbstinszenierungen weghauen und das erbärmliche Skelett aus Angst und Einsamkeit und Wahnsinn zum Vorschein bringen, um das im Leben die schönen Legenden modelliert werden. Eine Hemingway-Biografie (es gibt unzählige davon), die versucht, das „wahre Leben“ des Großmeisters amerikanischer Literatur zu erzählen, erzählt nur weitere Legenden, ersetzt die Selbstinszenierungen des Autors durch die Inszenierungen des Analytikers.
Das macht Leonardo Padura auch; aber anders, besser, denn als Dichter kennt er sich aus mit den kleinen biografischen Vexierspielchen. Padura ist dreist und erfindet eine Episode aus Hemingways Leben, einen dunklen Punkt gewissermaßen, von dem aus nicht etwa „das wahre Wesen, Sein und Vergehen des Giganten“ beleuchtet wird (nichts wäre langweiliger, nichts wäre sinnloser), sondern bewiesen, dass Wirklichkeit und Literatur nicht von einander zu trennen sind. Eine einzige große wahrhaftige Lüge eben.
Im Garten des kubanischen Anwesens des Autors Hemingway (heute ein Museum) wird eine Leiche gefunden, neben ihr eine FBI-Dienstmarke. Hat Hemingway selbst diesen offenbaren Agenten ermordet? Wusste er wenigstens von der Tat? Eine heikle Affaire für die örtliche Polizei, die ihren Exkollegen Conde um Mithilfe bittet. Er, der einst glühender Bewunderer Hemingways war, ihn dann aber ob seiner menschlichen Unzulänglichkeiten verachten lernte, beleuchtet noch einmal diesen Titan, wie es ein Detektiv eben macht, der eigentlich jetzt Schriftsteller ist, aber doch immer Detektiv bleiben wird.
Padura entwickelt sein Buch aus zwei Perspektiven. Die eine ist die des alternden und kranken Schriftstellers selbst, der sich durch die Tatnacht quält, mit der Knarre in der Hand sein Anwesen inspiziert, die andere die des rekonstruierenden Mario Conde, der den Ereignissen in jener Nacht des Jahres 1958 auf den Grund gehen will. Man nähert sich also der „Wahrheit“ von zwei Seiten, von der scheinbar authentischen und der spekulativen, die Faktenwissen anhäuft und Schlüsse daraus zieht. Diese Dramaturgie ist nun nicht neu. Auch dass sie sich als eine Reise in Mario Condes eigene Vergangenheit entpuppt und SEINE privaten Mythen und Camouflagen offenbart, konnte erwartet werden.
Der Clou aber kommt aus einer ganz anderen Richtung herangepirscht. Denn Conde ist sowohl der Expolizist, der sich um „Wahrheit“ bemüht, als auch der Schriftsteller, der sich, siehe oben, der Lüge verschrieben hat. Und Pandura zeigt virtuos, dass beides eins ist. Wenn Conde am Ende den Fall im Kreise seiner Freunde rekonstruiert, schreibt er in Wirklichkeit die „authentischen Passagen“ des Romans und erfindet eine weitere Hemingway-Legende, die so wahr ist wie alle anderen auch. Aus den Fakten des Polizisten wird die Literatur des Schriftstellers, die so gut erlogen ist, dass sie als Wirklichkeit durchgeht.
Pikanterweise ist es eine offen unlogische Stelle in Paduras Buch, die diese These stützt. Denn Conde weiß Details über die schicksalhaften Vorfälle in jener Tatnacht, die der Polizist nicht wissen kann, wohl aber der Schriftsteller. Er hat sie erfunden, so wie er vielleicht alles, was aus dem Blickwinkel Hemingways erzählt wird, erfunden hat.
Und dann wäre da noch die Sache mit Ava Gardners Höschen, das Conde aus dem Hemingwayschen Anwesen entwendet. Man kann es betrachten und sich vorstellen, welche Stellen es einst bedeckt hat, da sitzen die alten Männer am Kai und geben sich ihren Phantasien hin (aus denen klitzekleine Legenden entstehen, Snapshots von einer schönen Frau am Swimmingpool, die schließlich auch noch dieses Höschen ablegt, und man selbst sitzt in dieser Phantasie wie in der dicksten Wirklichkeit…), und dann stopft man das Höschen in eine Flasche und wirft die Flasche ins Meer, damit sie den fernen Freund drüben in Florida erreicht. – Das geht nicht in Wirklichkeit? In der Literatur wird die Flasche ans Ziel kommen, und wenn sie dort ist, ist sie dort.
„Er war eine schiefe Metapher in einer schiefen Wirklichkeit“ heißt es einmal über Conde, und, bitteschön, so schlimm ist das doch nicht. Die schiefe Metapher kann durchaus rechtwinklig zur schiefen Wirklichkeit stehen, alles eine Frage des Betrachters, der seinerseits den Kopf etwas schieflegt und nun beides, Metapher und Wirklichkeit, vielleicht nicht mehr schief sieht. Das nennt man dann Literatur. Paduras Buch ist so ein Stückchen davon, das einem die Dinge zurechtrückt.
Nachbemerkung: Wie der Zufall es so wollte: Parallel zu „Adiós Hemingway“ las der Rezensent Robert Littells „Kalte Legende“. Beide Bücher gehören zusammen und kommentieren sich. Die Besprechung von „Kalte Legende“ gibt es demnächst.
Leonardo Padura: Adiós Hemingway.
Unionsverlag 2006. 192 Seiten. 17,90 €