Pieke Biermann: Vier, fünf, sechs

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Endlich gelesen – neu gelesen: Krimis aus der Remittendenkiste, Angestaubtes aus dem Bücherregal. Wünsche des Rezensenten, aber auch Wünsche seiner Leser. Und so fing alles an: Die Blogbesucherin P.B. macht dpr auf den Roman „Vier, fünf, sechs“ aufmerksam, dpr gesteht beschämt, ihn nicht gelesen zu haben, bestellt ein Remittendenexemplar für 1,19 Euro, liest, ist beeindruckt – und macht gleich eine Serie daraus. Wird fortgesetzt.

Boomtown Berlin, Mitte der Neunziger. Bauskandale, mafiöse Strukturen: nichts Neues, aber seit dem Mauerfall alles ein wenig größer, globaler, angestrebt: Weltniveau. Und gähn. Schon wieder? Schon wieder. Aber diesmal alles ganz anders, alles ganz falsch, Fazit: alles sehr richtig.

Während einer Katastrophenübung auf dem Berliner Flughafen Tempelhof explodiert ein Koffer. Er hing am Arm eines hohen Tiers aus dem Polizeipräsidium, Beschaffungen aller Art waren sein Gebiet, nebenher Teilhaber einer dubiosen Immobilienfirma. Das ist politisch natürlich brisant und somit kein leichter Fall für das Ermittlungsteam um Kommissarin Karin Lietze.

Achtung. Jetzt kommt es drauf an. „Vier, fünf, sechs“ („1,2,3“, Billy Wilder? Kann schon sein.) von Pieke Biermann, Deutscher Krimipreis 1998, was wird sie damit machen? Sie hatte ja schon damals einen Faible fürs Authentische, das aber zumeist mit den ehernen Vorgaben des Genres handgemein wird, wenn die Wirklichkeit zu Nutzen und Frommen des auf „Spannung!“ getrimmten Lesers in Floskeln gegossen auf sprachlichen Stelzen durch die Normitäten geprügelt werden muss. Bitte das Gehirn während der Lektüre suspense-ieren, die Phantasie anschnallen, das Denken einstellen. Aber, siehe: Pieke pfeift dem was. Bei ihr sind wir sofort mittendrin, und eigentlich erzählt sie uns die Geschichte der Ver- und Entflechtungen auch nicht, sie zwingt uns, zuzuhören, was nicht immer einfach ist. Es wird viel dialektelt, die Gedanken hüpfen, nicht jedes Detail kommt im Doppelpack mit seiner Bedeutung. Schnelle Perspektivwechsel sind selbstverständlich, Humor dito (sehr schön: die Sache mit dem tiefgefrorenen Hühnchen). Gut so. Je authentischer der fiktive Raum, in dem wir uns bewegen, desto höher der künstlerische Aufwand, der betrieben werden muss, desto höher aber auch die Aufmerksamkeit, die von der lieben Leserschaft verlangt wird.

Dabei: Dieses Durcheinanderreden und –denken und –springen verkommt nie zum bloßen Muskelspiel einer stilistisch gestählten Autorin. Sie kann auch anders, etwa wenn sie die Gedanken jenes mysteriösen alten Mannes wiedergibt, der sich durch die geheime Unterwelt des Flughafens Tempelhof bewegt, wo er sich seit Kriegsende aufhält. Überhaupt: der Flughafen. Er wird zum Mikrokosmos, zum Abbild jener nicht fassbaren Stadt Berlin. Ein funktionierender Organismus, wo sich die Hurenkooperative neben der neuen Dienststelle zur Ermittlung von Regierungs- und Vereinigungsverbrechen etabliert, letztere ein Sammelsurium weggelobter, weil unbequemer Beamter, erstere Heimstatt der warmherzigen Bordsteinschwalben. Und gleich nebenan richtet sich die Russenmafia ein, und alles funktioniert wie geschmiert, das ist Berlin, war es schon immer, denn vergessen wir den Alten in den Katakomben nicht, der die Nazizeit, die Blockade, die Mauer mit sich herumträgt, auch das gehört dazu.

Die Ermittlungen. Kommen gut voran, irgendwie. Von oben wird Druck gemacht, von oben wird gemauert, am Ende wähnen sich die netten Leutchen um Karin Lietze (mit der ehemaligen Lottofee ähnlichen Namens hat sie nichts gemein) der Aufklärung des Verbrechens nahe, doch die böse Tat bleibt ungesühnt. Die Akten werden zugeklappt, der Fall wandert auf eine höhere Ebene, wo man ihn besser vertuschen kann. Das ist ein Affront gegen das erste Gebot des Krimischreibens, ganz klar, du solltest dem Leser, deinem Gott, am Ende immer den Täter präsentieren. Aber dieser Gott ahnt, dass selbst der Durchbruch, vor dem die Mordkommission steht, auf getürkten Indizien fußt.

Nur: Wen interessiert das eigentlich noch? Pieke Biermann hat ihre gutwilligen Leser sprachlich gepackt und mitten in die Geschichte geworfen. Die treibt unaufhaltsam dem Clou entgegen, der nichts anderes sein kann als die Einsicht, dass es die Verbrechen sind, die das Ganze am Laufen halten. Würde man sie aufklären, bräche alles zusammen, aber man sollte die Zusammenhänge kennen, und wenn Pieke Biermann auch nicht Recht & Ordnung triumphieren lässt, so doch immerhin Wissen & Erkenntnis. Willkommen in der Wirklichkeit, willkommen in der heilenden Luft des ehrlichen Krimis.

Also nichts auszusetzen an diesem Roman? Oh doch! Auf Seite 74 lässt Pieke Biermann die aus Film und Fernsehen bekannte saarländische „Familie Heinz Becker“ auftreten, die orientierungslos in Berlin gestrandet ist (die entsprechende Fernsehepisode gibt es tatsächlich). Ja, schön. Aber dann fangen die Zitat „Saarlandeier“ an zu reden! Und Saarländisch soll das sein! — Für die künftige Pieke-Biermann-Werkausgabe (muss nicht Leinen, Lesebändchen, Schutzumschlag sein) empfehlen wir hier dringend Nachbesserung, alles andere lass aber bloß stehen. Die komische Sprache, die komische Handlung, den komischen Schluss. Normsprache, Klischeehandlung und Happyende machen doch schon die anderen.

Fazit: Sollte unbedingt wieder- bzw. neu gelesen werden, ist im Gebrauchtpapierhandel wohlfeil erhältlich, haltbar bis mindestens 2150, danach neue Qualitätskontrolle.

Pieke Biermann: Vier, fünf, sechs. 
Goldmann 1997, 255 Seiten

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