Algerien 1987/1988, im Spätherbst der sozialistischen Republik: In Yasmina Khadras Buch „Nacht über Algerien“ treffen wir auf ein Land, das wirtschaftlich heruntergekommen, politisch verkommen und in gesellschaftlicher Auflösung begriffen wirkt. Kommissar Llob, aus früheren, jedoch in jüngerer Zeit spielenden Büchern Khadras bekannt als unangepasster Ermittler, der meint Recht über Reichtum und Gerechtigkeit über Macht stellen zu können, wird durch zwei Geschichten aus seiner herbstlichen Lethargie gerissen. Zwei Geschichten, die sich umkreisen wie die Rauchfahnen zweier Düsenjets bei einer Flugschau, um sich dann im Verlauf der Zeit miteinander zu vereinen und ein untrennbares Gebilde darzustellen.
Ein Assistent Llobs wird verdächtigt, auf eine der politischen Stützen des sozialistischen Algeriens geschossen und den Fahrer des Mannes dabei getötet zu haben. Als Llob mit ihm sprechen will, verliert sich seine Spur in den Folterkellern der Geheimpolizei. Zur selben Zeit erhält Kommissar Llob den Anruf eines Psychoanalytikers. Einer von dessen Patienten, ein verurteilter Massenmörder, heute noch ein unberechenbarer Fall, soll zum Jahrestag der Revolution amnestiert werden. Der Psychoanalytiker fürchtet, dass der Mann rückfällig wird und bittet Llob um Hilfe, um dieses zu verhindern. Llob beginnt zu ermitteln und findet vieles was nicht stimmig ist und wenig was wahr scheint.
Während seiner Ermittlungen trifft Kommissar Llob auf Duckmäuser und Machtmenschen; auf Menschen, die sich nicht nur eingerichtet haben, sondern die etwas zu verlieren haben und die ihm zu verstehen geben, teils mittels Zuckerbrot teils mittels Peitsche, dass seine Nachforschungen unerwünscht sind. Und so mancher seiner Zeugen erlebt das zweite Gespräch mit ihm nicht. Llob sieht, wie die gesellschaftlichen Eliten mit Korruption und eiserner Hand das Land in einen Selbstbedienungsladen verwandelt haben und in blühenden Palästen leben, während in den Vierteln der Stadt die Wasserversorgung immer wieder unterbrochen wird. Zornig, mit kraftvoller Poesie kotzen sich Autor und Protagonist über die 397 Seiten des Buches aus. „Nacht über Algier“, will das meinen, ist ein Buch der hemmungslos subjektiven Bewertungen und weniger eins der neutralen Beobachtungen.
Nun ja, marode gesellschaftspolitische Zustände spätsozialistischer Gesellschaften werden dem deutschen Leser so neu nicht erscheinen. Es sind die sprachliche Wucht und die verstörende Kompromisslosigkeit, die „Nacht über Algier“ zu einem besonderen Leseereignis werden lassen. Dabei kultiviert Yasmina Khadra seinen Zorn auf sehr hohem Niveau, denn das Buch ist ein Krimi mit einem gelungenen Rätsel. Schicht für Schicht legt Llob Lösungen frei, deren Endgültigkeit jeweils nur wenige Seiten währt und die ihn tiefer und tiefer in den moralischen Abgrund steigen lassen.
Nicht nur die problematische Gegenwart, auch die düstere Geschichte des Algerienkrieges und die Risse, die dieser innerhalb der algerischen Bevölkerung aufgetan hat, sind Thema von „Nacht über Algier“. Am Ende lernt der Leser, dass, auch in Algerien, die Schwären der Gegenwart auf den Verletzungen der Vergangenheit beruhen.
Yasmina Khadra: Nacht über Algier.
Aufbau Verlag 2006. 397 Seiten. 19,90 €