Noch bevor sich psychopathische Serienmörder die Buchladenklinke in die Hand gaben, betrat ein perfider, eiskalter Killer die literarische Welt, der all die populären Auswüchse grausamer Phantasien glatt in den Schatten stellt: Zanny Moncrief, zu Beginn der Romanhandlung 6 Jahre alt, ein leicht moppeliger Engel, unberührt von jeder moralischen Anwandlung. Kleine Stiefbrüder, die ihr im Weg sind: husch, ertränkt im Gartenteich, die Stiefschwester: leider verpasst, dafür brennt ein zufälliges Opfer, kann passieren.
Die Eltern wissen es, aber reden sich ein, dass nicht sein kann, was nicht sein darf, außerdem ist Krieg, da gibt’s andere Probleme als ein mordendes Kleinkind. Wofür gibt’s schließlich katholische Internate. Aus den Augen aus dem Sinn. Es funktioniert. Für ein paar Jahre. Niemand stirbt in Zannys näherer Umgebung. Dann die erste erwachende Liebe; eine Nebenbuhlerin muss beseitigt werden, ein pädophiler Politiker, niemand nimmt’s übel. Erst als das Subjekt der pubertären Begierde hingerichtet werden soll, regen sich zarte Skrupel. Doch niemand glaubt den Bekenntnissen einer mittlerweile 15jährigen engelsgleichen Schönheit. Wenn nur nicht diese blöde Nonne irgendwelche Zahlen wissen wollte….
Und wieder ein B.M Gill Roman, in dem die Polizei kaum eine Rolle spielt. Doch, Polizisten kommen vor, als freundliche Helfer, die einem verwirrten Kind den Weg nach Hause zeigen, Toffies verschenken und ansonsten auch nicht wacher sind als Erzieherinnen, Pastoren, Ärzte und andere “Respektspersonen“. Die liebe Zanny möchte so gerne Grenzen aufgezeigt bekommen, was sie erfährt , ist, das Mord eine lässliche Sünde ist. Im Gegensatz zu lesbischem Sex….
Wieder mal hört niemand zu, wieder mal reimt sich jeder seine kleine heile Welt zusammen, wie sie nach traditionellen Vorstellungen zu sein hat. Was natürlich eine dreiste Lüge ist: England befindet sich im Kriegszustand, draußen tobt der Wahnsinn, werden Massaker angerichtet, die Zannys kleine Morde tatsächlich wie lässliche, kleine Missgeschicke erscheinen lassen. Nicht dass sich derartige Folgerungen in den Vordergrund drängen, ganz im Gegenteil: „ Die letzten Wochen waren die Hölle gewesen – und er meinte nicht den Krieg“. Der Kriegseinsatz des Fliegermajors Moncrief ermöglicht ihm auch seine homosexuellen Neigungen auszuleben, während die verständnisvolle Gattin und konsternierte Mutter mit dem Hausarzt durch die Betten turnt.
Mrs. Gill scheint ihre (britischen) Mitmenschen nicht besonders zu mögen (falls doch, eines kommt bei ihr buchübergreifend schlecht weg: Institutionen und besonders solche, die sich um Kinder kümmern sollen. Ganz übel wird es, wenn sie auch noch kirchlich geführt werden…); alles Egoisten, die nur das eigene Wohl – bestenfalls noch das einer selbsterwählten Gruppe – im Sinn haben, Intelligenz dient nur als Mittel zur Berechnung der eigenen Erfolgsaussichten. Große und kleine Lügen sanktionieren alles. Selbst wenn sie auffliegen: egal, eine neue Lüge drauf gepackt und alles läuft fast rund. Da erscheint die unbekümmerte Mörderin Zanny, diese Pippi Langstrumpf in morbid, geradezu sympathisch. Hey, ich mache mir die Welt wie sie mir gefällt; da regiert die Lebenslust, der Affekt, große Gefühle, wenn auch nur geträumt. Am Ende lässt sie sich strahlend abführen, ein paar „gegrüßet seist du Maria“ und das bonbonfarbene Leben geht weiter. Könnte ein Irrtum sein…
Der Schluss ist leider der auffällige Schwachpunkt des Romans. Er wirkt übers Knie gebrochen, Zanny mordet schlampig und wird so entlarvt (obwohl Motiv und Mordopfer den Geist des Irrwitzes der vorherigen Seiten tragen). Gill schreibt per se keineswegs weitschweifig, aber im Schlussteil wirkt die Geschichte hingehuscht und fahrig, so dass ihr letztlich der Atem zur ganz großen Gesellschaftssatire fehlt. Konsequenter wäre gewesen, Zanny mit ihren Taten unbelastet davonkommen zu lassen, denn die rostigen Schienen der Konformität sind dem schrankenlosen Walten der Psychopathie nicht gewachsen… Trotz dieses Einwands bleibt „Herzchen“ ein gelungener schwarzhumoriger Roman, treffsicher und durchaus spannend.
„Detective Inspector Humphreys hatte ihr eine Tüte Bonbons dafür gegeben, weil sie Klein-Willie-umgebracht hatte. Pater Donovan hatte ihr drei „Gegrüßet seist du Maria“ aufgegeben, weil sie Klein-Willie und den Brot-Evans getötet hatte. Drei „Gegrüßet seist du Maria“ waren keine große Buße – aber doch ein Zeichen der Missbilligung. Es war also unrecht zu töten, aber anscheinend nicht so furchtbar unrecht. Für einen Mord wurde einem total vergeben. Für zwei wurde man milde gerügt. Vorausgesetzt man überschritt nicht eine vertretbare Anzahl, konnte man kaum in Schwierigkeiten geraten.“
Wieder mal nur antiquarisch erhältlich, dafür aber auch in der wunderbaren Doppelausgabe mit „Blind in den Tod“ (OT.: Death Drop); obwohl beide Bücher stimmungsmäßig überhaupt nicht zusammenpassen. Thematisch schon.
B.M. Gill: Herzchen.
Rowohlt 1987
(Original: "Nursery Crimes", 1986)