Tim O’Brien: Geheimnisse und Lügen

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John Wade ist am Ende seines amerikanischen Traums angelangt. Seine politische Karriere wurde jäh gestoppt, als herauskam, dass er an der Auslöschung des Dorfes Thuan Yen beteiligt war, besser bekannt als das My Lai Massaker, bei dem Hunderte vietnamesischer Zivilisten von amerikanischen GIs misshandelt, gefoltert und gnadenlos getötet wurden. John Wade „der Zauberer“ sieht alles mit an, lässt sich beinahe zufällig hineinziehen ins Morden. Später fälscht er zwar die Stammrollen der entsprechenden Einheit, wird aber trotzdem von seiner Vergangenheit eingeholt, in der vielleicht wichtigsten Phase seines Lebens, zur Zeit der Wahlen um einen Senatorenposten.

Konsequenterweise hervorgekramt von den eigenen „Parteifreunden“, nicht aus moralischer Verpflichtung, sondern um dem parteiinternen Konkurrenten erfolgreich den Weg zu ebnen. Was eigentlich nur ein Zwischenschritt auf dem Weg zur Präsidentschaft sein sollte, wird jetzt zu Wades finalem Fangschuss. Allein mit seiner Frau Kathy, am titelgebenden See der Originalausgabe, werden Wunden geleckt, über die Vergangenheit nachgedacht und zaghaft Pläne für eine Zukunft ohne die große Politik geschmiedet. Dann verschwindet Kathy Wade spurlos, eine hastig anberaumte Suche bringt nichts zu Tage, keine Geheimnisse, vermutlich einige Lügen, aber nichts Greifbares. Hypothesen, Fragmente zweier Leben, skizziert von Wegbegleitern. Am Ende verschwindet John Wade, der Zauberer löst sich auf in einem letzten Trick, und der Leser steht da, verlassen, mit einigen Varianten, Deutungsmöglichkeiten dessen, was wirklich passiert sein könnte. Aber die eindeutige (Er)Lösung entfällt.

„In The Lake Of The Woods“ ist eine Art literarisches Äquivalent zu David Lynchs „Twin Peaks“. Das Böse bei O’Brien ist allerdings ambivalenter, noch weniger greifbar als bei Lynch. Hier gibt es keine mystischen Eulen, keinen „Bob“, der das Böse personifiziert; doch die Atmosphäre ist genau so vergiftet, mit Alpträumen und Düsternis, der nahezu surrealen Einsamkeit des Sees in den Wäldern. Hier IST Twin Peaks literarische Wirklichkeit: wenn John Wade nachts durch das Haus schleicht und alle Pflanzen mit kochendem Wasser übergießt, das unheilvolle Mantra „Kill Jesus“ ausstoßend. In diesen dunklen Stunden handelt Wade, entlarvt alle zaghaft gefassten Pläne (Europa, Verona) als pure Illusion, eröffnet sogar die Möglichkeit, der Mörder des Menschen zu sein, der ihn liebte. Selbst dieses hehre Gefühl stellt O’Brien allerdings des Öfteren in Frage – gab es da nicht mindestens einen Seitensprung, der augenscheinlich so selbstlos liebenden Kathy Wade? – was seine Figuren zueinander treibt ist weitaus schwieriger zu entschlüsseln. Denn der scheinbare „all American Boy“ John Wade ist eine zutiefst verstörte Persönlichkeit, ein Spanner und Stalker, der sich ziemlich ungeschickt an Kathys Fersen heftet. Die späteren Aussagen der weiteren Beteiligten lassen vermuten, das Kathy um diese seltsame, nahezu pathologische Angewohnheit ihres Geliebten und späteren Ehemannes Bescheid wusste. Trotzdem lässt sie sich ein auf den verkappten und verkannten Illusionisten, der es letztlich kaum schafft sich selbst zu täuschen. Gefangen in ihren Träumen warten beide darauf, dass das große Glück passiert, doch die Zäsuren der Realität haben Vetorecht.

Tim O’Brien macht es seinen Lesern nicht leicht, nicht nur, dass er keine eindeutigen Lösungen parat hat, er bedient sich schamlos in der Historie (eine Nebenfigur ist u.a. Lieutenant Calley, der als einziger Soldat wegen seiner Beteiligung am My Lai Massaker zu einer Gefängnisstrafe verurteilt wurde. Nach zwei Jahren Hausarrest war er wieder ein freier Mann.), verquirlt Fakten mit Fiktion, lässt seine Figuren (und sich selbst) vermuten und lügen. Doch am Ende steht eine Wahrheit: je mehr man einen Menschen auseinander nimmt, desto mehr wird er zurück geworfen auf sich selbst. Und hat dabei die Wahl: zum Monster zu werden oder zum Menschen.

Bleibt noch die bescheidene Frage zu klären, ob „Geheimnisse und Lügen“ ein Krimi ist. Es gibt einen Mord, kurz auftretende Ermittler, Verdächtige und Täter. Vermutlich. Letztlich zeigt O’Briens Roman wie bedeutungslos Genre Zuordnungen sind. Einigen wir uns auf Psycho-Thriller… vielleicht.

Äußerst peinlich ist, dass Tim O’Brien, einer der besten amerikanischen Gegenwartsautoren, gerade mal mit drei Büchern auf Deutsch vertreten ist (und auch das teilweise nur antiquarisch: „Geheimnisse und Lügen“; „Was Sie trugen“; „Waren wir nicht glücklich“.) Zeit, dass sich was ändert!

Tim O’Brien “In The Lake Of The Woods”, 1994 
(dt. "Geheimnisse und Lügen", Fischer 1998))

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