Die dicken Krimis

In Mailand, habe ich gehört, dürfen jetzt Models, die aussehen wie mit Haut umspannte Kleiderständer, nicht mehr auf den Laufsteg. Weg mit den Hungerhaken, mehr Form, mehr Inhalt, bitte. Gut so. In Deutschland, lese ich gerade, will man übergewichtige Kriminalromane abspecken lassen. So jedenfalls steht es →hier und →hier, ja sogar →dort regt sich Unmut über die Wabbelkrimis und eigentlich ist das so wie in Mailand: mehr Form, mehr Inhalt, weniger Füllstoff.

Dass Krimis zu dick, zu langatmig sind, hat mehrere Gründe. Einmal den, dass in Zeiten des gepflegten Serienmordes sieben Leichen ihr Erzählquantum beanspruchen. Dann den, dass der Trend, nicht nur einen, sondern gleich mehrere Fälle innerhalb von zwei Buchdeckeln auszubreiten, nicht aufzuhalten ist, siehe Stuart McBrides „Die dunklen Wasser von Aberdeen“ oder Thomas Kasturas „Der vierte Mörder“. Die Mutter aller kriminalliterarischen Fettleibigkeit ist allerdings SIE: die Tendenz, den Schwerpunkt der Erzählung vom Verbrechen auf den Ermittler zu legen, auf sein Team gar.

Früher war es nämlich so: Ein Mord geschieht, ein Kommissar ermittelt, er hat seine Paladine um sich, die zumeist nicht mehr sind als hinskizzierte Lemuren. Der Held selbst hat eine Frau, ein Laster, ein paar sonstige Eigenarten, das wars denn aber auch schon. Macht summa 200 Seiten, die dem Eigentlichen des Krimis gewidmet sind: der Tat, dem Täter, den Folgen, den Opfern, der Aufklärung.

Heute ist das leider so: Ein Mord geschieht, ein Kommissar ermittelt. Aber nur in den Atempausen, die ihm die Turbulenzen der eigenen Existenz gönnen. Er hat eine Frau – aber die geht fremd oder versteht ihn nicht, er hat keine Frau, dafür eine Freundin, meistens hat er jedoch eine Exfrau, eine Exfreundin, eine drogensüchtige Tochter, einen hinterhältigen Bruder und einen Vater, der an Alzheimer erkrankt ist. Das schlaucht richtig. Es macht aber noch etwas viel Schlimmeres: Es löst Gedanken aus, es lässt räsonnieren, alle Themen des ach so komplizierten Lebens entfalten sich im Kopf des Kommissars, der gottlob ein Team um sich hat, das die Arbeit macht – nein, falsch, denn auch dieses Team besteht längst nicht mehr aus den Lemuren, es sind jetzt ausgewachsene Menschenaffen, die Ärger mit der Frau, der Freundin, der Tochter, dem Sohn, dem Vater, dem Nachbarn, dem Finanzamt, der Mafia haben und ihrerseits zu räsonnieren anfangen…

Das, versteht man, kostet Zeit, kostet Seiten. Der eigentliche Fall wird dann nur noch nebenbei abgewickelt, das, was er eigentlich aufrollen sollte, das Leben und die Wirklichkeit, sind ihm ja abhanden gekommen, das alles befindet sich längst in den räsonnierenden Hirnen der Ermittler, wo die Plattitüden wie Eisberge gegeneinander krachen und zu den winzigen geistigen Eiswürfeln zerbröseln, die sie von Natur aus eigentlich auch sind.

Nun ja. Gerade kommt ein neuer Roman von Reginald Hill ins Haus, über 500 Seiten. Man flucht: Warum schreibt der Mann keine 1000-Seiter? Der nämlich kanns.

(geschrieben mit deaktivierter Autokorrekturfunktion)

21 Gedanken zu „Die dicken Krimis“

  1. Ja, es bräuchte mehr Mut zum Skizzenhaften, dann kann der Kommissar auch ruhig eine Tochter haben, die ihn hasst, so lange der Autor weiß, wie viel wirksamer Andeutungen als Beschreibungen sind. Und: Vielleicht erzeugt ein Trend ja auch einen Gegentrend. Irgendwann wird es wieder gefragt sein, das Präzise. Das hoffe ich. Denn ich habe keine Lust, noch 500 Seiten dranzuhängen.

  2. Könnte sein, lieber Jürgen, dass die Scheu vor dem Skizzenhaften ihre Wurzel in einer Geringschätzung der intellektuellen Fähigkeiten der Leser hat. Ich schreibe etwas und frage mich: Ob es die auch verstehen? Sollte ich nicht doch ausführlicher werden? – Das wäre die quasi autorenfreundliche Antwort. Die autorenunfreundliche: Sie könnens einfach nicht besser. Sie halten Sprache für etwas, dessen Wert in Seiten berechnet wird, je mehr davon desto teurer. Wahrscheinlich eine Mischung aus beiden Möglichkeiten. Wir beide wissen natürlich: nicht mehr als 200 Seiten (ich leg dir noch 20 obendrauf).

    bye
    dpr

  3. Nur ein paar kleine Fakten: USAmerikanische SchriftstellerInnen wurden historisch nach Wortzahl bezahlt (schon in Pulp-Heftchen). Da gehört’s quasi zum Überlebenskampf, möglichst viele Worte zu machen. Oder wenigstens Wörter.
    Und in den 80er Jahren gab’s in NY and elsewhere den Modeslogan THINK BIG, vielleicht hat der sich auch in ein paar falschen Köpfen festgesetzt. Wenn man den mal zusammendenkt mit den astronomisch absurden Mega-Vorschüssen, die in den 90er Jahren in den USA bezahlt wurden (und, nebenbei, fast alle literarisch interessanten SchriftstellerInnen der verkaufsmäßigen Mittelschicht wegrasiert haben – irgendwo muss man ja sparen als global player), dann ahnt man, aus welchen Quellen sich der Trend zum Backstein auch speisen könnte.
    In deutschen Verlagen galt dagegen historisch das Prinzip Krimi = Taschenbuch = soundsoviel Blatt, basta. Das hat wiederum zu der unseligen „Tradition“ geführt, alles Originale, was darüber hinausging, kurzerhand wegzuschnippeln. Weshalb deutsche LeserInnen ihre Klassiker nicht nur oft saumäßig übersetzt, sondern regelmäßig kastriert kennenlernen durften.
    Seitdem deutsche Krimiautoren fanden (Ende 70er/Anfang 80er in West-Deutschland), auch ihnen stehen Hardcover zu, nicht bloß „billige Taschenbücher“ (ein ganz unseliger „Sieg“), ist das zwar anders geworden, hat aber natürlich nicht automatisch zu höherer literarischer Qualifikation bei Au- und LektorInnen geführt.
    Was die übersetzten Krimis (vor allem, eben, aus den USA) heute angeht: Die Backsteine müssen ihre Vorschüsse wieder einspielen, nicht nur via Hollywood-Option, auch via Auslandsgeschäft; also: satte bis absurde Lizenzsummen und juristisch bis in die kleinste Riefe abgesicherte Verträge. Mit ua. dem Kollateralschaden: im Zweifelsfall wird auch das geschwätzigste Werk in der Übersetzung lieber mal nicht ent-schwätzt, selbst wenn’s ihm noch so gut täte. Macht aber nix, denn erstens wird das Publikum ohnehin nicht gefragt und zweitens herrscht neuerdings in deutschen Landen ja noch das hilfreiche Prinzip: „Geiz ist geil!“ In Buchkauf übersetzt: Je mehr Buchmasse, desto größer mein Schnäppchen.
    Einen aparten Gegen-Standard hat unser aller Lady Agatha etabliert: relativ dünne Bücher bei überbordender Retundanz. Auch Nicht-Backsteine können zu dick sein. In Lady A.s Klassikern hat man den Eindruck, sie habe sich bei jedem Kapitelanfang erstmal selber wieder ins Gedächtnis rufen müssen, was eigentlich bis dato so vorgefallen war, also fasst sie’s eben flugs nochmal zusammen. Auch dafür gibt’s eine ganz banale Erklärung: Sie hat diktiert… (Diesem Standard übrigens obliegt selbst manche deutsche TV-Serie heute noch – nach dem, was die Story hergibt, dürften Folgen von zB. „Der Alte“ höchstens zehn Minuten dauern…)
    Und noch ein eigentlich banales Faktum: habent suus corpus libelli, sozusagen. Romane sind entweder so dick oder dünn, wie sie sein MÜSSEN, oder sie sind nicht wirklich gut. Dafür gibt’s kein Standardmaß, das bemisst sich allein nach der inneren Notwendigkeit. Jedenfalls für SchriftstellerInnen, die ihr Handwerk ernst nehmen. Form(at) follows fiction.
    P.

  4. Franz Schuh, glaube ich, hat neulich in seiner „Literaturen“-Kolumne „Das Kriminal“ am Beispiel von Maigret-Romanen gezeigt, wie man mit wenigen Sätzen Atmosphäre erzeugt, charakterisiert usw. Das ist funktionales Erzählen in seiner höchsten Form. Beispiele für das Gegenteil – nämlich das Aufblähen von Erzähltexten mit wenig sachdienlichen Informationen – findet man heute in beinahe jedem umfangreicheren Kriminalroman – egal ob er aus Schweden, den USA oder aus deutschen Landen stammt. Aber manchmal wandelt sich das, was zunächst wie Redundanz bei genauerem Hinsehen in Kunst. Womit wir wieder bei einer ganz alten Frage wären, die sich nur durch das ganz alte Handwerk der Interpretation beantworten lässt.
    Viel Spaß dabei wünscht
    Joachim

  5. Das Zusammenschneiden von Klassikern, liebe Pieke, kenne ich noch vom „Lederstrumpf“. Meine erste Ausgabe hatte 100 Seiten, glaub ich, dann bekam ich eine mit, na so 300 Seiten geschenkt, die denn auch schön ausladend mit Naturschilderungen begann – boring, but: Beim zweiten Lesen hats geschnackelt.
    Schon richtig: Jedem Sujet seine passende Gestalt. Letztlich scheint es mir bei der Diskussion um die Dicklichkeit der Kriminalliteratur aber um die Frage zu gehen, ob Texte eindeutig oder deutbar sein sollen. Das bringt uns zum heiklen Thema „Wirklichkeit in Krimis“, dort nämlich, wo sie eingefangen werden soll, die gesellschaftliche/politische Wirklichkeit, wird mitunter auf eine Weise „realistisch-authentisch“ erzählt, dass es einem die Schuhe auszöge, hätte man im Bett beim Lesen welche an. Es beginnt bei der bekannten Inspizierung des Kühlschranks (drei Eier, davon zwei weiß, ein altes Stück Käse, vor vier Monaten beim SPAR gekauft) und endet im ermüdenden Dozieren über die schlimmsten dreiundzwanzig Weltübel. Und das geschieht nicht selten mit dem (ob nun ich-erzählenden oder er-erzählten „Kommissar“ ist egal) Fixpunkt Ermittler / Ermittlerteam. Aber naja, darüber müsste man sich mal verschärft seine Gedanken machen. Übrigens: In Eisenbahnen werden meistens dicke Bücher gelesen. Vor allem von Frauen. Empirisch von mir ermittelt.

    bye
    dpr

  6. Wenn’s den Usern der Krimi-Couch auffällt, ist es eh schon zu spät und der „Trend“ vermutlich bereits rückläufig;-) Aber genau dort findet man auch das Zwiespältige dieser „dem Sujet angemessen“ Forderung (die ich eigentlich sofort unterschreiben würde). Denn erinnere ich mich z.B. an meine erstmalige Elizabeth George Lektüre, fand ich das Buch gar nicht übel, aber gut 150 Seiten zu lang.Und es war nicht mal einer der dicksten George Wälzer. Die eingeschworene Gemeinde monierte sofort: keine Seite zu lang, eher zu kurz. Die treuen LeserInnen wollen halt alles über „ihre“ Lieblinge wissen, da will jedes Gänseblümchen am Wegesrand gepflückt werden. Die persönliche Okkupation literarischer Figuren fördert natürlich eine Bücher-Verfettung. Der Star-Schnitt zum gewöhnlichen Din-A1 Poster. So fordert die ewige Pubertät ihre Opfer. U.a. in Eisenbahnen. Vor allem von Freauen. Empirisch von dpr ermittelt.

  7. Das User-Bashing übersehe ich mal und erinnere mich lieber an einen Gesprächsfetzen von der letzten Buchmesse, wo ich mit einer Lektorin/Pressefrau genau das Phänomen diskutiert hatte. Ihr Argument pro dick war so simpel wie wenig nachvollziehbar: Es gäbe viele, viele Leser, die auf Preis und Umfang eines Buches schauen und sich dann für das dickere entscheiden – „da bekommt man ja mehr für sein Geld“.

    Wenn der Roman keine 500 Seiten hergibt, wird übrigens auch ganz gerne mal eine ordentlich übergroße Typo oder schlichtweg dickeres Papier verwendet – Ihr kennt Beispiele dafür sicherlich selbst. Will sagen: Allein auf Seitenzahl zu schauen bringt wenig. Ein alter rororo-Thriller aus den 70ern, der auf um die 200 Seiten daherkam, würde jetzt alleine wegen der größeren Schriftart sicherlich auch über 300 landen.

  8. Ja, lieber Lars, für das User-Bashing unseres Azubi Jochen entschuldige ich mich. Er hat gerade seinen ersten Liebeskummer und kommt auch in der Berufsschule nicht so ganz klar – Pubertät eben, du kennst das ja auch…(Nur im User-Bashing hat er ne 1, immerhin.)
    Aber mal ernsthaft: Wenn Leser Bücher wie Brot kaufen und mengenmäßig auf Schnäppchenjagd gehen – nu, traurig genug, aber damit fallen sie für mich in den Personenkreis, der mich als Krimifreund schlichtweg nicht mehr interessiert. Gehabts euch wohl, werdet glücklich, aber lasst mich in Frieden. Es geht auch, das hat die bisherige Diskussion hoffentlich gezeigt, nicht per se um ein contra dicke Krimis, sondern schlicht um das aus vielen Quellen gespeiste Aufblähen von Texten, die unter dem unnötigen Gewicht zusammenkrachen. Aktuelles Beispiel: Andree Hesse, Das andere Blut (bespreche ich nächste Woche). Mit 412 Seiten ja noch fast „Normalgewicht“, Typ gelungener Durchschnittskrimi, wenn da nicht die völlig unnötigen Auslassungen zum Privatleben des Kommissars wären. Er wird Vater – und entsprechend denkt er sich durchs gesamte Buch. Dann ist auch noch sein Bruder zu Besuch – ein Kollege ist zahlungsunfähig etc. Ein Horst Bieber hätte daraus einen strammen 200-Seiter gemacht, völlig angemessen. Nichts gegen Einblicke in das Privatleben der Ermittler – aber wenns so überhaupt nicht passt, von der Story ablenkt? Das übrige Personal bei Hesse bleibt dann auch schön im Holzschnittartigen, was schade ist, denn von der Konstruktion her, wie gesagt, kein misslungener Krimi, aber dazu mehr nächste Woche…

    bye
    dpr

  9. Verschärfte Gedanken machen immer gern, lieber dpr, und besonders über den ganzen Komplex „Fiktion und Realität in Sachen Kriminalität & Co.“! Ich tu’s seit gut 20 Jahren täglich und kann empirisch bestätigen, dass es immer faszinierender wird. Ich hab zB. nochmal wieder neu gelernt, dass auch hier die gute alte rechtsphilosophische Grundregel gilt: Jeder Fall muss individuell/einzeln beurteilt werden. Es KANN zB. goldrichtig sein, die blödsinnigsten Reste in irgendeinem Krimi-Kühlschrank aufzuzählen, inkl. Verfallsstadien und Preisvergleich Wochenmarkt-ALDI oä. Es KANN auch goldrichtig sein, eine, sagen wir: Mordkommissarin seitenlang die Chronologie ihrer Menstruationsrhythmusstörungen oder einen Mordkommissar dieselben seiner Frau/Freundin/Kollegin/Mutter/Tochter ventilieren zu lassen. Oder Tiraden gegen die Abgefeimtheit von HartzIV oder RockyVI loslassen zu lassen. Es KANN aber genauso gut goldrichtig sein, die Betreffenden weder einen Kühlschrank noch gar Menstruationen haben zu lassen. Es kömmt eben drauf an. Es GIBT keine Standard-Messlatte dafür. Literaturschreiben ist und bleibt ein Risiko, Literaturbeurteilen ebenso. Billiger ist die ganze Veranstaltung für Leute, die sie und sich ernst nehmen, leider nicht zu haben. Man KANN jedesmal voll in die Scheiße gegriffen haben. Und auch das besagt erstmal nichts. Es ist aber – tröstlicherweise, finde ich – auch nichts wahnsinnig Originelles, was unsereins gar zu irgendeinem besseren Menschen macht. Auch MordermittlerInnen leben damit, im realen Leben. Um nur EIN Beispiel zu nennen.
    P.

  10. Am dem Argument, dass Leser ihre Bücher im Kilo kaufen (schwer = gut), mag etwas dran sein. Andererseits meine ich erst vor Kurzem gelesen zu heben, dass die meisten ihre Bücher nach Empfehlungen kaufen. Das hieße ja, dass dicke Bücher auch öfter empfohlen werden.

  11. Da kippst du Wasser auf meine Mühlen, liebe Pieke. Es gibt ja richtige Wonnen des Klitzekleinen, den großen Jean Paul mag ich schon fast nicht mehr nennen, nehmen wir halt mal aktualitätshalber Thomas Pynchon, der – ich glaube in „Die Enden der Parabel“ – einen überbordenden Schreibtisch wie ein Archäologe beschreibt, seitenlang…es soll sogar einen Krimiautor geben, der sei-ten-län-ger wiedergibt, was Mädels im Zug so von sich geben…Mais: Ich rede von der Disziplinlosigkeit mancher AutorInnen, ihrer schieren Formverachtung, Sprachverachtung. Da steht halt der Held in der Küche und muss was tun, gedacht hat er schon genug, also macht er den Kühlschrank auf, gibt wieder zehn Zeilen. Und dann denkt er an Kritiker A, dass der wohl wieder mal die fehlende Realität monieren wird, also hauen wir noch ein Seitchen Hartz IV dazu, wie es die Pilcherin nicht besser könnte, hätte sie gerade dem Müntefering aufs Maul geschaut… und manchmal geht die Rechnung sogar auf, da wird dieses Geseyre zur „realistischen Krimikunst“ erhoben und diese Brüder&Schwestern im Ungeist hast du nicht verdient, Pieke, nee, nu wirklich nicht, nüch?

    bye
    dpr

  12. Ja, lieber Lars, für das User-Bashing unseres Azubi Jochen entschuldige ich mich. Er hat gerade seinen ersten Liebeskummer und kommt auch in der Berufsschule nicht so ganz klar – Pubertät eben, du kennst das ja auch…

    Stimmt, noch gar nicht so lange her 😉

    Aber, lieber dpr, ich denke, jeder der auf irgendeiner Literatur-Website sein Unwesen treibt – und wirklich egal auf welcher – tickt nicht so, wie ich es auf der Buchmesse vernehmen musste. Sag es ruhig deutlich: Diese geschilderte Denke ist abartig.

    Womit wir sicherlich auch d´accord gehen ist der Punkt, dass kein Mensch künstlich aufgeblähte Krimis braucht. Ob sich diese eigentlich sehr effektiv angelegte Gattung zum Schwafeln und Ausschweifen überhaupt eignet, wage ich eh zu bezweifeln. Runtergeschraubt auf den Punkt: Irgendwo, mal mehr, mal weniger massiv, lebt ein Kriminalroman von Spannung. Und in meiner Sicht führt ein Schwafeln zum Spannungsabfall, ganz automatisch.

    Das alles hat gar nicht mal soviel damit zu tun, sich nicht über 500 Seiten auf eine Lektüre konzentrieren zu können, wie Herr Beckmann vermutet. Wenn mich ein Roman langweilt, lese ich ihn nicht weiter. Und nicht, weil meine grauen Zellen nicht mitspielen.

    Übrigens finde ich langatmige Einstiege bedeutend schlimmer, als einen Leerlauf in der Mitte. Nichts gegen atmosphärische Prologe. Aber es darf nicht ewig dauern, bis mal was passiert.

    Nicht vergessen sollten wir aber auch, dass es Kriminalromane gibt, die durchaus dick sind, bei denen ich aber keine Seite missen möchte. Wilsons „Blinder von Sevilla“ ist so ein Fall.

    Unterm Strich liegt mein Goldener „Schnitt“ bei 300 Seiten. Es gibt nicht soo viele Plots und Figurenkonstellationen, die wirklich mehr hergeben.

  13. Aber andersrum auch, lieber Lars. Wahrscheinlich ist es sogar viel schwieriger, einen 150-Seiter dramaturgisch vernünftig durchzuziehen als einen 500-Seiter (schwierig ist beides, klar). Entscheidend ist, welchen „Interpretationsspielraum“ ich meinen LeserInnen einräume. Traue ich ihnen zu, einen Nebensatz, vielleicht auch nur ein WORT so zu verstehen, wie ich es einsetze (ein Wort, das vielleicht mehr sagt als 1000 Bilder…)? Man sollte ja denken, dass gerade Krimis, die vom Leser „mitdenken / mitermitteln“ verlangen, prädestiniert wären, solche feinen literarischen Techniken anzuwenden. Tatsächlich ist wohl eher „Eindeutigkeit“ gefragt, gut / böse in der Variante versteh ich / versteh ich nicht. Uh, aber das ist wirklich ein Thema für sich…

    bye
    dpr

  14. Wie ich Dich vom Lesen mittlerweile kenne, lieber dpr, wirst Du das Thema aber doch bald aufgreifen… 😉

    Aber kein Beispiel ohne Gegenbeispiel: Auch die von Euch so hochgeschätzten Krimis von Norbert Horst mit ihrer an den Stream of Consciousness angelehnten Erzählweise durchbrechen die 400-Seiten-Grenze und überlassen auch viel dem Leser.

  15. Nö, lieber Lars. Zwischen 280 und 380 Seiten sind die drei Horst-Krimis dick. Soll jetzt kein Webmaster-Bashing sein…Frau Biermann is die typische Zweihundertfuffzigerin, „Potsdamer Ableben“ ausgenommen, aber wenn man da das Schriftbild ein bisschen großzügiger…So, und jetzt muss ich bei der Gelegenheit da doch mal nach Kühlschrank-Szenen gucken…und wehe, ich finde eine…

    bye
    dpr

  16. User bashen, ich? Niemals. Wo ich doch selbst dazu gehöre – und außerdem gar nicht weiß wie Bashen geht! Und das mit der Berufsschule und der Pubertät: Miss Krababbel hat mich schließlich zuerst geküsst…
    Der Trend zum Aufblähen lässt sich übrigens nicht nur bei Büchern beobachten. während früher der typische Kinofilm mit rund 90 Minuten hinkam, müssen es heute meist weit über 100 sein. Und das auch bei Filmen, die nicht unbedingt eine ausgeprägte Storyline haben. Vielleicht ist doch was dran, dass es Leute gibt, die glauben, dass mehr = besser ist. Oder ein falsch verstandener Tarantino-Effekt: jener Irrglaube, das seiten- oder minutenlange Abschweifungen etwas über den Kern einer ganz anderen Sache aussagen.

  17. Supersize me! – was für Big Macs gilt, kann für Romane nicht verkehrt sein. Und der „Gehalt“ ist dann letztendlich ähnlich.

  18. Wenn die Leser die dicken Dinger kaufen und lesen (womöglich mit Gewinn, den sie schließlich selbst definieren), dann könnte man über das Bedürfnis spekulieren, das die 500-Seiter jenseits der ‚Geiz-ist-Geil‘-Mentalität befriedigen. Ist es nicht so, daß die scheinbar nicht-plotfunktionalen Passagen solcher Texte unablässig damit beschäftigt sind, Alltagskontingenz mit Sinn zu versehen — und daß genau darin der ‚Mehrwert‘ für das Lesen liegt? (Man kann in diesem Zusammenhang an die Kriegsromane von Konsalik und Konsorten denken: Wenn ich den Erzählungen von Kriegsteilnehmern trauen darf, dann war das Kriegserlebnis für die Landser der Inbegriff von Kontingenz — und auf diese Erfahrung reagierten K & K mit großem Erfolg, wie man weiß.)

    Man könnte auch mit den Unterschieden von TV- und Literaturdarstellungen spielen: In TV-Dramen hängen/stehen/laufen überall Träger von latenten Bedeutungen rum, die von Einstellung zu Einstellung wieder spurlos verschwinden (im Gegensatz zur Bühnendramaturgie, wo das Gewehr, das im ersten Akt in der Kulisse hängt, notwendig auf die Leiche im letzten Akt verweist — so ähnlich hat es, glaub‘ ich, Tschechow gesagt). Literatur funktioniert anders: Sie macht Angebote, Details in einen Sinnzusammenhang einzubauen, Kontingenz, wie auch immer, aufzuheben. Insofern würde die Literatur (ob sie nun ‚gut‘ oder ’schlecht‘ ist) für Kompensation sorgen, indem sie die Vorstellung zuläßt, daß alles, was ‚ist‘ auch Sinn hat. (Das wird in der Literatur ständig reflektiert — man könnte jetzt auf Ani und seinen Pomo-Gott zurückkommen …).

    Ich frag‘ ja nur und grüße!

  19. Nur ganz kurz, lieber JL, da der „Sinn“ gerade zu einem kleinen(!) Blogbeitrag zusammensinniert wird: sehe ich ähnlich. Viele der dickleibigen Krimis verdanken ihre Robustheit dieser Sinnproduktion. Sie entwickeln geschlossene Systeme, sowohl was den Alltag als auch seine Reflektierung betrifft. Was notwendigerweise nur mit Hilfe der Technik des Erklärens funktionieren kann. Nun, dazu hoffentlich am Montag ein bisschen mehr…

    bye
    dpr

  20. „Erklären“: da muß ich abwarten, während ich eher an Textkonstruktionen wie die von Frau Wolff im Sinn(!) hatte: die gegenseitige Beleuchtung von Arbeit und Privatleben, womöglich noch via Literatur bzw. Literaturgespräche, oder auch Herrn Eckerts Nach-außen-Stülpen der über Jahrzehnte angesammelten innerfamiliären Gewaltpotenziale, die dann natürlich erzählerisch eingeholt werden müssen.

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