Kleiner Krimiwissenstest. Woran erinnert uns das? Zwei Polizisten, verfressen / rassistisch / dumm wie Brot fahren Streife. Genau: Sjöwall / Wahlöö. Und weiter: Die schwedische Polizei ist korrupt, paramilitärisch, neonazistisch, frauen- und ausländerfeindlich. Jetzt wird’s langweilig: schon wieder Sjöwall / Wahlöö. Hat Leif GW Persson eigentlich auch etwas Eigenes zu bieten?
Gute Frage. Doch, hat er, und die S/W-Zitate sind nicht Indiz für schlecht geklaute Einzelteile aus dem klassischen schwedischen Krimimuseum, sie sind grimmige Referenz und nicht weniger grimmiges Abnicken der vom Meisterduo diagnostizierten Gesellschaftsverhältnisse. Wie in den Sechzigern und Siebzigern, so ist es immer noch.
Ein amerikanischer Journalist stürzt aus dem 15. Stock eines Studentenwohnheims, in dem er sich einquartiert hat, um ein Buch zu schreiben. Ganz offensichtlich Selbstmord, da sind sich die Ermittler, durchweg dem oben beschriebenen Typs des schmierigen Dummbeutels zugehörig, einig. Es braucht einige Zufälle, um Kriminaldirektor Lars. M. Johansson in den Fall zu ziehen, Johansson, der längst Karriere gemacht und die Tagesarbeit der Polizei hinter sich gelassen hat. Nun aber steckt er wieder mittendrin. Was er herausfindet, ist harter Stoff, könnte den Staat in seinen Grundfesten erschüttern.
Ein zweiter Erzählstrang berichtet uns von eben diesen Grundfesten. Berg und sein Adlatus Waltin stehen einer gigantischen, so grotesken wie einflussreichen Behörde vor, die sich um die Staatssicherheit sorgt. Eine Art Verfassungsschutz plus Nachrichtendienst, in immer bizarrere Abteilungen aufgegliedert, in denen äußerst merkwürdige Menschen Materialien über Terroristen und sonstige Störenfriede der öffentlichen Ordnung sammeln. Man sorgt sich vor allem um den Ministerpräsidenten, den meistgehassten Mann des Landes, angeblich Spion der Russen, wie es die Spatzen von den Dächern pfeifen.
Während Johansson im Fall des toten Amerikaners ermittelt, nähern sich die clownesken Bemühungen der Behörde um Berg und Waltin diesem Thema aus einer anderen Richtung. Aber jetzt kommt der Clou. Perssons Roman erzählt uns keine vollkommen fiktive Geschichte. Schon die Tatsache, dass der Journalist sein Buch auf einer Schreibmaschine tippt, verlegt die Erzählzeit in die Prä-PC-Ära, und richtig: Wir befinden uns in den Achtziger, der Ministerpräsident heißt Olof Palme, er wird ermordet – nicht nur in der Wirklichkeit.
Wirklichkeit? Kann das sein? Überzeichneten nicht schon Sjöwall / Wahlöö die Entwicklungen der schwedischen Gesellschaft und ihres Polizeiapparates? Warum schlägt Persson in die gleiche Kerbe? Wer ist eigentlich dieser Persson? Nun, er ist Professor für Kriminologie und – Berater der obersten Polizeibehörde, ein Mann mithin, der wissen sollte, was er sagt und schreibt. Und steht nicht der bis heute ungelöste Mord an Palme für Ermittlungsskandale, höchste Inkompetenz und Verschwörungstheorien?
So gesehen wird aus der vorgeblichen Überzeichung allmählich nüchterne und geradezu unfassbare Realität oder, sagen wir es genauer, eine Realität, von der wir nicht wissen ob, aber doch befürchten, dass sie existiert. Sie ist verwirrend genug, auch in der ausführlichen Schilderung über Dutzende von Seiten, was man hätte kürzen können, aber vielleicht doch nicht, weil man nur so den ganzen Irrsinn aus Verfolgungswahn, Dummheit, Kalkül und Machtgeilheit ungeschnitten vorgesetzt bekommt. Denn es scheint sie zu geben, die hohen Polizeibeamten, für die Frauen „Säue“ sind, die Neonazis in Uniform, die aufgeblasenen Behörden als Staat im Staat. Und selbst dann, wenn Persson aus dramaturgischen Gründen die Dinge bis ins Groteske steigert: Was bleibt, ist der illusionslose Zynismus dieses Romans. Auch Johansson, der mit Abstand symphatischste Charakter des Textes, ist, nachdem er das Geheimnis des Journalisten entdeckt hat, zynisch, auch wenn er diese Geisteshaltung pragmatisch nennen sollte. Er übergibt seine Unterlagen an die nächste vorgesetzte Stelle – und damit hat sichs.
Die Morde, um die es in Perssons Roman geht, sind mehr oder weniger Zufallsmorde, periphere Ereignisse. Im Mittelpunkt steht die Ungeheuerlichkeit der Recht- und Gerechtigkeitsmaschine, die alles was sie zu fassen kriegt verformt, Menschen, Dinge, Ereignisse. Das war bei Sjöwall / Wahlöö schon nicht anders und ist wohl die Botschaft, die mehr als eine Generation später noch immer gilt. Nicht nur in Schweden.
Leif GW Persson:
Zwischen der Sehnsucht des Sommers und der Kälte des Winters.
München (btb) 2006 (deutsch von Gabriele Haefs). 672 Seiten. 9 €
Lieber dpr,
Ihre Beschreibung ist so einleuchtend, dass sie mich dazu verführt, noch einmal auf die unmittelbare Marktkoppelung des Genres zurückzukommen: Kann man die ‚Wirklichkeit‘ des Krimis von Persson nicht genau so gut, wie auf seine Kenntnis der schwedischen Gesellschaft/Polizei, auf die gängige Marktstrategie der Überbietung zurückführen (die beim Serienkiller-Roman sattsam bekannt ist), während Sjowall/Wahlöö mit der komplementären Strategie des Widerspruchs erfolgreich waren?
Nur so am Rande … und grüßend!
Das mag sein, lieber JL, aber ich habe meine Zweifel. Sollten Sie, was ich nicht weiß, das Buch kennen, dürften Sie sich über das Längliche der Beschreibungen gerade dieses „Sicherheitskomplexes“ gewundert haben. Verschlungene, manchmal haarsträubende Wege, neue Abteilungen, Sitzungen etc. Das mag „Überbietung“ sein, aber gewiss keine, die der „Marktstrategie“ (die es ja massiv gibt)dient. Strategisch mag daran die ständige Wiederholung abstruser Sexualpraktiken sein, die Einblicke in völlig kranke Hirne etc., aber insgesamt wird der von solchen Strategien ins Visier genommene Leser an diesem Buch kaum Gefallen finden. Es ist allerdings eine Überbietung der von S/W bekannten Muster. Die waren ja nun alles andere als zynisch – bei Persson sind sie es.
bye
dpr