Ganz merkwürdige Leseerfahrung. Selten hat man so häufig in Zitronen gebissen, das Gesicht so unter Schmerzen verzogen. Legionen von platten Personen, Handlungen, Zuständen, Dialogen, Monologen sind an einem vorbeigerauscht, 372 Seiten lang, das schlaucht. Und am Ende? Klappt man das Buch zu und sagt sich: Okay. Wenns nicht völlig misslungen ist, ist es halt gut gelungen, ja, doch: Merle Krögers „Kyai!“ ist ein gelungenes Buch – wenn man es so möchte.
Die Handlung in wenigen Sätzen zusammenzufassen, ist ein Ding der Unmöglichkeit. Hauptperson ist Mattie Junghaus, Deutsch-Inderin, mit ihrem Wanderkino in Schleswig-Holstein unterwegs. Sie lernt eine SPD-Politikerin, ihren Mann, einen gutsbesitzenden Psychologen, sowie eine deutschpersische Leibwächterin kennen, tja…und dann sind wir in Indien und lernen einen Komponisten kennen, der Musik für „Bollywood“-Filme schreibt, einen deutschen Liebhaber, Nick, hat, der zuvor fünf Jahre lang Matties Lover war. Der Komponist erhält den Auftrag, in Berlin an einem Bollywood-Musical mitzuarbeiten – auch Mattie wird engagiert -, fährt in die Bundeshauptstadt, Nick bleibt zurück – die SPD-Politikerin hat Stress mit der örtlichen Bundeswehr, für die pikanterweise ihr Mann einen heiklen Auftrag übernommen hat, ach ja, Matties Mutter ist depressiv, Nick erhält einen journalistischen Auftrag, der ihn nach Poona führt und von dort mit brisantem Material nach Deutschland, der Vater der Leibwächterin — nee, lassen wir das. So geht es eben kunterbunt hin und her, Aktion folgt auf Aktion, das Verbrechen, ohne das ein Krimi schließlich nicht auskommt, stellt sich ein – spät, aber immerhin, und was man nicht zu glauben wagte, geschieht: Am Ende überschlägt sich das sowieso schon Hochtourige noch einmal, es gibt Leichen und Skandale.
Man kann nun dieses ganze Panoptikum als eine denkwürdige Aneinanderreihung von Flachsinn ästimieren. Es fehlt wirklich nichts: das Schahregime, Kungfu, der Irakkrieg, die immer noch sehr beliebte globale Komponente (dritte Welt, erste Welt, Kulturschocks), sogar der gute alte Baghwan taucht noch einmal auf, seine ehedem orangenen Jünger jetzt im Grau des bundesdeutschen Alltags, Neonazis dürfen ebenfalls nicht fehlen, die Problematik des Schwulseins wird nicht vergessen (hübsch: der Inder liebt Nick, der vorher mit Mattie, die nun ihrerseits mit dem Inder, der schließlich mit beiden…) – alles in unglaublich platten Worten und Reflexionen – uh, denkt man, nein, muss das wirklich sein?
Es muss. Und das ist das Überraschende an „Kyai!“ von Merle Kröger. Allmählich merkt man, was sie da inszeniert. Das nämlich, was in ihrem Roman inszeniert wird: ein Bollywood-Stück. Sprich: ein völlig überzogener Monumentalfilm im Bonbonbunt der ausgerasteten Gefühle, wenn man sich nur in die Augen blickt, tanzen schon 800 verzückt plärrende Papageien um einen rum, die Wörter rinnen sirupsüß aus allen Poren, der Schlag eines Schmetterlingsflügels wird von lärmenden Orchestern bombastisch untermalt, kurzum: Das Filigrane des Lebens wird dreist verkitscht, zur Weltsensation und letzten Wahrheit aufgeblasen.
Das ist nicht die Welt, wie sie ist. Aber das ist die Welt, wie sie gerne wahrgenommen wird und genau deshalb doch ist. Einfache Wahrheiten, edle Gefühle, ein Interieur aus Versatzstücken, ein jedes grell beleuchtet, grell beschmiert. Bollywood. Das Krimi-Bollywood von Merle Kröger öffnet uns die Tür zur massenmedialen Wirklichkeit und die ist: zuckersüß und flach und voll dumpfer Gedanken. Genau, so ist es jenseits der Programmkinos, jenseits der intellektuellen Heimeligkeit eines Ohrensessels. Die Welt als furchtbares Rührstück, und „Kyai!“ ist ihre turbulente, ins Kolossal-Kitschige hochgezüchtete Abbildung.
Merle Kröger: Kyai!
Argument / Ariadne 2006. 372 Seiten. 9,90 €
Danke für den ausführlichen Abrat. Ich hatte mir schon überlegt, das Buch zu lesen. Aber jetzt weiß ich, dass ich das nicht muss.
Ich hab da ja, wie der Dichter sagt, zwei Säle in meiner Brust. In dem einen tummelt sich Dr. Abrat und sagt: Nee, lohnt nicht. Im andern Mr. Zurat und meckert: Doch! So is die Welt! Genauso! Platt und bunt und binsenweise. Strange, strange…
bye
dpr
Sag doch noch mal bitte, warum dieses „Kyai“, das ich als Kampfschrei von Ju-Jutsu und Karate kenne, so prominent als Titel fungiert. Ist das sinnvoll oder nur Effekthascherei?
Naja. Die Leibwächterin der SPD-Politikerin kann Kungfu, ihr Vater ist irgendein Großmeister. Das „Kjai“ dient wohl als Urschreiersatz, soll befreien, Konzentration ermöglichen. Sinnvoll? Weiß ich nicht. Zwingender Titel ist es jedoch kaum.
bye
dpr
Des henn isch mir scho gedenkt…
Dake für die ausführliche Inhaltsangabe des Buch Kjai. Das lesen hab ich mir dann jetzt gespart.
David