Und wieder geht eine gesicherte Wahrheit den Bach runter. Wer liest eigentlich Krimis? Bisher antwortete man ohne Zögern: Na, linke Vögel, sexuell frustrierte Hausfrauen, alkoholisierte Arbeitslose, von Minderwertigkeitsgefühlen geplagte Angestellte des Öffentlichen Dienstes, durchgeknallte akademische Schreckensmänner, bei denen es für Kafka nicht gereicht und – „imbezile Couch-Potatoes!“, gröhlt vom Redaktionsdiwan der soeben vom „Raven“ eingetroffene, nun „outchillende“ Azubi Jochen. Jetzt aber muss auch die Geschichte der Krimilesersoziologie neu geschrieben werden, der „Westfälischen Rundschau“ sei Dank.
Sie nämlich →präsentiert uns Dr.(!) Hans-Dieter(!) Fischer, CDU(!), Bürgermeister(!) von Hagen(!), Akademischer Direktor(!) der Uni Dortmund(!) als begeisterten Leser von Kriminalliteratur.
„Dr. Fischer besitzt eine unglaubliche Sammlung. Die Schränke und Regale seines Wohnhauses sind voll. In Zweierreihen hat der Christdemokrat seine Schätze einsortiert. Stolz zeigt der 1. Bürgermeister seine (fast) komplette Kommissar Maigret-Reihe.“
Neben Simenon schätzt Dr. Fischer auch noch Christie, Chandler, Jim Thompson und andere Klassiker, bevorzugt „vor dem Einschlafen“. Das zur Homestory abgedruckte Foto zeigt ihn indes am Schreibtisch, die Füße bequem hochgelegt, die Augen konzentriert in der Broschur.
Nein, keine Frage, Dr. Fischer ist Fachmann, der sehr genau beobachtet, die früher so miserablen Übersetzungen von Kriminalromanen ebenso geißelt wie die weitverbreitete Ansicht, Krimis seien Schund. Solche Sachkenntnis prädestiniert zur Wissensweitergabe:
„An der Uni Dortmund wird übrigens bald ein Seminar angeboten. Thema: „Mörderische Frauen“. Dozent: Dr. Hans-Dieter Fischer.“
Dortmund, du hast es besser. Und wir müssen jetzt unsere Vorurteile revidieren. Auch nützliche Glieder der Gesellschaft relaxen gerne bei Mord & Totschlag.
Die „(!)“ bringen mich zum Grübeln, lieber dpr. Hinter „CDU“lese ich es als „ausgerechnet!“. Aber dann hinter „Hagen“? Hagen, die Stadt in der ich zur Schule gegangen bin? Ich weigere mich, da „ausgerechnet in Hagen“ zu lesen.
luju
Sie müssen, lieber luju, die Ausrufezeichen quasi contropunktivisch zur Eröffnung lesen. CDU(!) heißt also: alles andere als „linke Vögel und sexuell frustrierte Hausfrauen“, Hagen(!) = Schau mal an, selbst in einer so hübschen und seriösen Stadt werden Krimis gelesen. Usw. Ein schönes Beispiel für „schlanke Blogbeiträge“, denn stellen Sie sich mal vor, ich hätte das immer ausschreiben müssen! Unter 500 Zeilen wäre das nicht abgegangen…
bye
dpr
Ah ja, ich verstehe. Nicht: wer hätte gedacht, dass jemand, der „Hans-Dieter“ heisst, Krimis liest, sondern: wer „Hans-Dieter“ heisst, kann kein linker Vogel sein.
luju
Exakt! Sie haben das Prinzip der Sinnreduzierung auf eine exegetisch valurable, sowohl metatextual als auch interinstanziell (Autor – Leser!) explorierbare Chiffe sehr schön erkannt! Fürs Krimilesen sind Sie jetzt aber intellektuell schon zu avanciert, tut mir leid…
bye
dpr
…können diese Qualifikation aber sofort wieder erlangen, wenn Sie behaupten: Jemand, der Hans-Dieter heißt, kann keine sexuell frustrierte Hausfrau sein, wer hingegen Bürgermeister von Hagen ist, durchaus ein alkoholisierter Arbeitsloser.
bye
dpr
Wieder was gelernt
luju
Welche Verfilmungen sollen das denn gewesen sein?
Wohl die BBC-Verfilmungen mit Rupert Davis (1960-63). In Deutschland ab 1965 gelaufen.
luju
Die Uni Duisburg-Essen(!) legt im kommenden Semester nach mit „The English Detective Novel between Convention and Parody: A. Christie’s ‚The Murder of Roger Ackroyd‘ to G. Adair’s ‚The Act of Roger Murgatroyd'“ 🙂
An diese Maigret-Serie erinnere ich mich noch, lief immer Samstags. Damals fand ich aber Pippi Langstrumpf noch spannender.
bye
dpr
Ich finde auch heute noch Pippi Langstrumpf-Filme (aber nur die von damals) spannender als egal welche Krimiverfilmung. Krimis lesen ist immer spannender als Krimis gucken.
LG
barb
@luju: Danke. Wieder was gelernt. Bislang kannte ich Maigret nur mit den Gesichtern von Jean Gabin, Bruno Cremer und – nun ja – Heinz Rühmann.
Goldmanns „Fernsehlexikon“ behauptet übrigens:
Samstags. Wenigstens zeit- oder teilweise. Ich erinnere mich an gewisse Überschneidungen mit der „Sportschau“…
bye
dpr