Würde man den Inhalt von John Harveys neuem Roman „Schrei nicht so laut“ nacherzählen, um danach zu betonen, man halte das Buch für sehr gelungen, ja, originell – es gäbe wohl eine ganze Menge Unverständnis zu ernten. Gelungen, mag sein; aber „originell“? Das was man von der Handlung und ihrer dramaturgischen Gestaltung zu berichten gehabt hätte, wäre kaum über das Aufzählen von Genreüblichem hinaus gekommen. Selbst den Schluss hält nur für überraschend, wer noch nicht viele Krimis gelesen hat. Warum also ist „Schrei nicht so laut“ ein Buch, das die Kriminalliteratur bereichert?
An der Handlung kann es, wie gesagt, nicht liegen. Detective Frank Elder, seit geraumer Zeit Ruheständler im idyllischen Cornwall, geschieden, eine Tochter, nimmt privat die Ermittlungen in einem ungelösten Fall wieder auf. Vor vierzehn Jahren ist Susan Blacklock verschwunden, vieles deutet darauf hin, dass sie das Opfer zweier Killer wurde, die wegen eines ähnlichen Falles inhaftiert sind. Jetzt ist einer der beiden, Shane Donald, wieder auf freiem Fuß. Elders Verdacht erhärtet sich, als Donald gegen die Bewährungsauflagen verstößt und verschwindet. Als dann die junge Emma Harrison auf ähnlich bestialische Art wie damals getötet wird und man Donald ganz in der Nähe des Tatorts gesehen hat, sind auch die letzten Zweifel an seiner Täterschaft ausgeräumt. Bevor Elder den Verdächtigen jedoch fassen kann, wird seine eigene Tochter entführt…
Kennen wir alles so oder ähnlich. Das Besondere bei Harvey ist zunächst die Perfektion, mit der er sein Handwerk beherrscht. Selten liest man Dialoge von solcher Präzision und Stimmigkeit, man möchte sie beinahe dreidimensional nennen, da sie nicht nur Informationen, sondern auch die Seelenlage der Sprecher und das Unausgesprochene zwischen ihnen an den Leser weitergeben. Harvey ist kein Erklärer; er konstruiert sein Personal aus dem, was er tut, er montiert geschickt und erspart sich so die üblichen Wortgewaltigkeiten, mit denen weniger begabte AutorInnen „Tiefe“ in ihre Texte zu bringen trachten.
„Schrei nicht so laut“ wird überwiegend aus der Sicht Elders und seines Widerparts Donald erzählt. Verbunden sind beide Perspektiven durch einen roten Faden, das Leitthema des Buches: Wie repariert man in Unordnung geratene Biografien oder verhindert, dass sie überhaupt in Unordnung geraten? Wir begegnen in „Schrei nicht so laut“ auf Schritt und Tritt solchen kaputten Lebensläufen, seien es die der Eltern der Opfer oder der Polizisten und ihrer Familien. Elder ist angetreten, „die Dinge wieder in Ordnung zu bringen“. Auch Shane Donald, immer noch in den Klauen seiner schaurigen Kindheit und Jugend, versucht sich als Reparateur des eigenen Lebens, gerät an Angel, der es nicht weniger schlimm ergangen ist, doch beide scheitern, wie nicht anders zu erwarten. Am Ende ist auch Elders Illusion dahin, ein weiteres Leben traumatisiert; Harmonie zeigt sich ironischerweise nur dort, wo man sie zuletzt vermutet hätte — aber das lese jeder selbst.
„Schrei nicht so laut“ ist ein Kriminalroman, der eindrucksvoll beweist, dass die in letzter Zeit vielbeschworene „Erneuerung“, ja, „Literarisierung“ des Genres vor allem aus diesem selbst heraus bewerkstelligt werden kann. Handwerk und Techniken sind noch nicht ausgeschöpft, selbst wenn alle Geschichten schon erzählt sein sollten, bleibt doch das WIE als eine Herausforderung an die AutorInnen. John Harvey macht sich mit „Schrei nicht so laut“ um das Genre verdient, weil er sein Potential zu nutzen versteht. Manchmal wird etwas schon erneuert, indem man es einfach besser macht.
John Harvey: Schrei nicht so laut.
dtv 2007 (Original: „Flesh and blood“, 2004, deutsch von Sophie Kreuzfeldt).
448 Seiten. 9,90 €