Kriminalroman. Ein Kurzkrimi

(Eigentlich mag ich keine Kurzkrimis. Sie sind meistens so kurz, dass sie schon wieder zu lang sind. Da ich aber Kriminalromane mag, gibt es jetzt einen Kurzkrimi, der „Kriminalroman“ heißt. Und kürzer gar nicht mehr geht.)

Ein Mann wird aus dem Wasser gezogen, eine Kugel im Kopf. Kommissar Preussig ermittelt, Kommissar Preussig, 48, geschieden, die üblichen Beschädigungen, bisweilen von der Absurdität geplagt, er wäre einem Kriminalroman entsprungen und eines Tages stünde ein Mann an der Ecke, würde ihn zu sich her winken und mit unwiderstehlicher Autorität sprechen: „Jetzt aber zurück in deinen Krimi, Kerlchen, die Leute vermissen dich schon.“ Absurd, wie gesagt.

Der Tote heißt Wiegald und ist Schulrat. Verheiratet, kinderlos. Preussig, begleitet von Schmielke, der aber stets stumm bleibt und daher in dieser Geschichte nur der Ordnung halber erwähnt wird, Preussig beginnt, sich ein Bild zu machen. Er verhört Angehörige, Kollegen, Untergebene und Vorgesetzte, ausgebrannte Lehrer und verwilderte Schüler. Es fallen Sätze wie „Feinde hatte er keine, hat ihn halt keiner gemocht.“ oder „Mein Mann und ich führten eine moderne Ehe.“ oder: „Wenn Sie den Mörder finden wollen, müssen Sie die Frau suchen, wie das Sprichwort sagt.“

Marlies Wiegald, jetzt Witwe, neigt zu regelmäßigem Seitensprung; Peter Wiegald, Bruder des Toten, fängt seine Schwägerin bei diesen Regelmäßigkeiten bereitwillig auf und kippt mit ihr rücklings aufs Bett; Lothar Xantner ist Schuldirektor und kein Freund des Toten gewesen; Marc und Lucas, renitente Hauptschüler, haben mal mit einem Stein die Frontscheibe des Wiegaldschen Wagens zertrümmert. Und so weiter.

Im Zuge der Ermittlungen kippt die Wirklichkeit ihre Jauche über Preussig aus. Er macht sich Gedanken über die Sinnhaftigkeit von Ehen, in denen Lüge regiert, räsonniert über ein Bildungssystem, das Versager produziert, über Lehrer und Lehrerinnen ohne Illusionen, Familien in den Fängen des Sozialstaates, Kinder, die keine Kinder sind, Politiker, die sich einmal im Monat den aktuellen Stand ihrer Pensionen ausrechnen lassen, eine Gesellschaft, die das Falsche behauptet, weiß, dass es das Falsche ist, aber auch, dass ein Aussprechen der Wahrheit noch falscher wäre.

Preussig kennt das alles, er ist ein erfahrener Beamter. Wie so oft stellt er fest, dass die Sätze, welche am Anfang einer Ermittlung ausgesprochen werden, in deren Fortschreiten syntaktisch zerbrechen, „’ch weiß nich’, ach, Mensch, Sie könn’ doch nich’, exhopp, raus damit, schaun Se sich doch ma hier um“ ecetera, selten Sinn ergeben und, je weniger Sinn sie ergeben, der Wahrheit zuarbeiten, die sehr banal ist, weil sie so komplex ist.

Recht bald gelangt Preussig zu der Erkenntnis, Marlies Wiegald habe ihren Mann ermordet, um für dessen Bruder frei zu sein, was natürlich geleugnet wird. Er stellt ihr eine plumpe Falle (getürkter Erpresserbrief, „Ich weiß, dass…ich werde, wenn nicht…“), aber sie tappt nicht hinein. Zwei Tage später ist sie tot und Peter Wiegald verschwunden (Bild: Ein Briefträger, der ein Einschreiben zu überbringen hat, die Tür offen findet, das Haus betritt, das Schlafzimmer, in eine Blutlache latscht. Hört, wie hinter ihm die Haustür ins Schloss fällt).

Die Wirklichkeit, siehe oben, scheint zu Gunsten einer Beziehungstat gebannt. Bis man, wieder zwei Tage später, den Schuldirektor Xantner aus dem Wasser fischt, eine Kugel im Kopf, und Preussig, eigentlich normal, den Mann an der Ecke, der ihn zu sich her winkt, wirklich zu sehen glaubt, nicht mehr nur in seinen kruden Vorstellungen. Das ist ein Kriminalroman, sagt der Mann, mach dir keine Sorgen, das wird schon. Löse den Fall und komm zurück. Man erwartet dich auf Seite 218.

Peter Wiegald wird am Flughafen Frankfurt festgenommen, als er das Land verlassen will. Er leugnet den Mord an seiner Schwägerin, den Schuldirektor Xantner gibt er vor, gar nicht zu kennen, ja, er habe die Leiche der Schwägerin in ihrem Schlafzimmer entdeckt, sei in Panik geraten und den Rest kenne man doch aus der einschlägigen Literatur. Nie ist die nächstliegende Lösung die richtige. Preussig besorgt sich einen Haftbefehl für Wiegald, befürchtet aber, dass sich der Täter noch auf freiem Fuß befindet.

Er verhört mehrere Angehörige des Lehrkörpers. Er bekommt grausige Geschichten zu hören. Er erfährt, Xantner habe eine Schülerin missbraucht, eine Freundin von Marc und Lucas, diese habe sich das Leben genommen. Er verhört Marc und Lucas. Diese gestehen, ja, missbraucht worden sei die und man habe zunächst den Wiegald in Verdacht gehabt, deshalb die Frontscheibe seines Autos zertrümmert, dann aber Xantner ins Visier genommen, aber nicht ermordet. Preussig besorgt sich einen Haftbefehl für Marc und Lucas, Peter Wiegald bleibt in Haft, da die Ermordung der Ehefrau Marc und Lucas nicht angelastet werden kann, sie haben kein Motiv, aber ein Alibi. Die Syntax der Sätze ist vollends zerbrochen, nicht einmal mehr Ellipsen tausche man aus, beklagt sich der nette Deutschlehrer, den Preussig vernimmt, in der Linguistik rede man auch vom Gedankenstrich, auf dem sich die rausgekotzten Silben prostituierten. Abends rekonstruiert Preussig aus den Worttrümmern eine Art grammatischen Sinns und schreibt Sätze wie „Peter Wiegald verwickelt sich in Widersprüche, mir ist zum Kotzen, wenn ich die Wirklichkeit betrachte“ auf ein Stück Papier, das er niemals zu den Akten geben wird.

Preussig redet mit dem Staatsanwalt. Er überzeugt ihn, sowohl Marc und Lucas als auch Peter Wiegald auf freien Fuß zu setzen. Mit Hilfe einer Lehrerin (Bettina Schäfer, 34, geschieden), in die sich Preussig inzwischen etwas verliebt hat, wird das Gerücht gestreut, Peter Wiegald habe die Schülerin missbraucht. Marc und Lucas launern ihm auf, stehen aber unter ständiger Polizeiüberwachung. Peter Wiegald, von den Schülern bedrängt, gesteht, ja, er habe seinen Bruder, der die Schülerin missbraucht habe, erpresst, während eines heftigen Streits ermordet, dann die Schwägerin, welche Zeugin der Tat gewesen sei und am Ende auch den Schuldirektor, um dem Fall eine andere, gesellschaftskritische Richtung zu geben. Peter Wiegald wird verhaftet, man hat sein Geständnis auf Band.

Kommissar Preussig sitzt, nachdem der Fall gelöst ist, abends in der Kneipe und trinkt zwei Bier. Er zahlt und geht nach Hause. Die Straßen sind menschenleer, es ist ein Vorort, es ist Nacht, es ist kalt und es regnet. Da sieht Preussig den Mann an der Ecke. Der winkt ihn zu sich her. Preussig geht zu dem Mann. Der mit autoritärer Stimme sagt: Jetzt reichts aber. So einen wie dich können wir in unserem Kriminalroman nicht gebrauchen. Du hast überhaupt nichts kapiert. Du bist ein Idiot. Du bist es nicht wert, dass sich Menschen Gedanken über dich machen. Du gehörst nicht in die Fiktion, weil du nicht in die Wirklichkeit gehörst, und deshalb stoßen wir dich in die Wirklichkeit zurück. Du wirst mir niemals mehr begegnen.

Dann hat sich der Mann plötzlich in Luft aufgelöst. Preussig wischt sich den Schweiß von der Stirn, geht nach Hause, macht sich eine Pizza heiß und legt sich mit rumorendem Magen ins Bett, in dem er schläft, bis der Wecker klingelt.

Oder das Telefon läutet und ihm ein neuer Fall angetragen wird.

3 Gedanken zu „Kriminalroman. Ein Kurzkrimi“

  1. Narrenhände…du kennst ja den Spruch, lieber Dschordsch. Das ist ein Kriminalroman mit eingebauten Sub- und Metatexten zuzüglich Krimikritik. Auf gerade mal zwei DinA 4 – Seiten! Wer hier Kürzungsbedarf sieht, ist päpstlicher als der Schmidt, du weißt doch: dehydrierte Prosa. Müsste dich doch mal diesbezüglich examinieren, aber das würde wohl ein traurige Angelegenheit werden…

    bye
    dpr

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