Das Eindringen der Wirklichkeit in den Kriminalroman

„Ich bin mal gespannt“, sagte ich auf der letzten Frankfurter Buchmesse zu einem befreundeten Kollegen, „ob der deutschsprachige Kriminalroman weiterhin die Augen vor der Wirklichkeit verschließt. Finanzkrise, Armut – man kann es doch nicht mehr übersehen, oder?“ Der Kollege, ein weiser Mann, schnaufte hörbar. „Ja“, sagte er schließlich, „es ist zu befürchten, dass auch der Deutschkrimi die ökonomische Realität thematisieren wird. Machen wir uns auf Unmengen Peinlichkeiten gefasst.“

Aber seien wir nicht zu pessimistisch. Schauen wir lieber in einige – nicht alle – Verlagskataloge und fahnden dort nach der Wirklichkeit. Gewiss, es gibt wie gehabt eine Menge Krimis zum Thema Politik & Filz, aber nicht darum soll es gehen. Auch die „Wirtschaftskrimis“ wollen wir beiseite lassen. Was aber ist mit Arbeitslosigkeit, dem möglichen Kollaps des Sozialstaates, der Mehrung des Reichtums weniger auf Kosten der Mehrheit?

Fündig wird man bei dtv. Hier für Mai angekündigt: Andreas Laudans „Pharmakos“, trotz des etwas bildungsbürgerlich altgriechischen TItels ein Werk aus der Gegenwart – das in der nahen Zukunft spielt: „Deutschland 2019: Der Sozialstaat steht kurz vor dem Zusammenbruch. Eine inoffizielle Organisation hat begonnen, angebliche Sozialschmarotzer zu töten.“ Klingt reißerisch, kann aber dennoch gelungen sein. Titel ist bestellt und wird genauestens unter die Lupe genommen.

Zum Thema gehören könnte auch Uta-Maria Heims „Wespennest“, für Februar bei Gmeiner avisiert. „Mit 86 haut der rote Karle noch einmal richtig auf den Tisch. Vom Nazi-Terror über den RAF-Terrorismus bis zum weltweiten Wirtschaftskollaps – Furcht, Schrecken und Dummheit sind einfach nicht totzukriegen.“ Wohl wahr. Und auch diesem Werk schauen wir gespannt entgegen.

Das Schlüsselwort „arbeitslos“ fällt gleich zweimal im Frühjahrsprospekt des Emons Verlags. „Das Dreamteam aus Paderborn: Die eine ist Beamtin, die andere arbeitslos.“ heißt es über Barbara Meyers „Fastenzeit“, einen „Westfalen Krimi“. Auch in „Frauen schwimmen “ („Rhein-Main Krimi“ mit wenigstens einem Bindestrich) von Uli Aechtner und Belinda Vogt begegnen wir einem Dauergast bei der Arbeitsagentur: „Juliane Bach, eine arbeitslose Journalistin, begibt sich auf die Spur der Toten.“ Ob auch auf die Spur der sozialen Realität, bleibt dahingestellt.

So, dies die erste Sichtung. Wir bleiben am Ball. Hinweise auf weitere Werke mit Bezug zur sozialen Lage werden gerne entgegengenommen.

5 Gedanken zu „Das Eindringen der Wirklichkeit in den Kriminalroman“

  1. ich hab‘ grad einen US-Roman gelesen, in dem u. a. detailliert das Video einer Geiselermordung beschrieben wird. Gälte das auch (selbst wenn, horribile dictu, die Repräsentationsverhältnisse mitthematisiert werden)?

    Beste Grüße!

  2. ein bißchen Zeit muss man auch dem Kriminalroman geben, so schnell er auch sein mag. Und was haben wir von schnell hingepinselten Pastichearbeiten mit schnell und passgenau eingerasteter Sozial- oder sonstiger Kritik, wenn man das Zeug vor lauter Sprach- und sonstiger Mängel nicht lesen mag. Ein bißchen Arbeit und Hirnschmalz will doch reingesteckt sein. Hoffentlich. Also Finanzkrise und Folgen eher nächste Saison.

  3. Autoren sollten nur über etwas schreiben, von dem sie etwas verstehen oder verstanden haben.
    Für ganze Heerscharen von mehr oder weniger intelligenten Finanz- und Volkswirten war die Finanzkrise ein unerklärliches und unvorhersehbares Ereignis. Ich sehe keinen deutschen Autor, der derzeit die Kenntnisse hätte, etwas Neues und Lesenswertes, also etwas, das über die üblichen Googeleien hinausgeht, über die Finanzkrise zu schreiben.
    Ansonsten sehe ich im deutschen Krimi viel soziale Realität: Zuletzt in dem hierorts diskutierten „Paragraf 301“ von Wilfried Eggers oder in den Berlin-Krimis von Ralph Gerstenberg.
    Und: Wer mag denn eine Geschichte schreiben resp. lektorieren oder lesen, in deren Zentrum erziehungsunfähige drogensüchtige Eltern stehen, die ihre Kinder verwahrlosen und verhungern lassen?

  4. Okay, was die Finanzkrise angeht, lieber GG. Das mit der Armutsentwicklung haben wir aber schon etwas länger. Um Missverständnisse zu vermeiden: Ich möchte hier niemandem vorschreiben, über welche Themen er oder sie schreiben soll (das würde ich mir selbst verbitten). Interessant ist es aber schon, wie gewisse Realien entweder gar nicht oder nur am Rande in Kriminalromanen auftauchen. Plötzlich haben wir auch arbeits- und obdachlose Ermittler (gibts auch einen, ich hab nur im Moment die Details nicht parat). Zur Finanzkrise noch, lieber Dr. Booß: Sie haben Recht. Man soll über das schreiben, wovon man Ahnung hat. Ich erwarte auch keinen kundigen Beitrag zur Kritik der globalen Finanzströme etc. Aber diese Finanzkrise ist ja nur ein Symptom für das labile Konstrukt, in dem wir leben. Sie ist zudem auf das Engste mit den sonstigen Zuständen unserer Gesellschaft verbunden, die ihr zugrunde liegenden Denkweisen verfolgen uns auch im Alltag. DARÜBER zu schreiben, sollte schon möglich sein. Ob es jemand lesen will (oder über verwahrloste Kinder)? Eher nicht. Ja. Das ist traurig. Man könnte ein paar hübsch dekorierte Leichen (auch so etwas, was mir bei Durchsicht der Kataloge aufgefallen ist: viele Leichen sind hübsch zurechtgemacht oder haben irgendwelche Sachen im Mund)applizieren, ein paar uralte Skelette entdecken (wird auch gerne genommen)und sonstige Beigaben für den ungetrübten Spannungsgenuss. Und die Wirklichkeit dann als kostenlose Zugabe für das „mehr als Krimi“.

    bye
    dpr

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