Qiu Xiaolong: Rote Ratten

Shanghai, die Weltboomtown, wird immer krimitauglicher. Eben hat noch der →Fengshui-Detektiv einen weißen Elefanten durch die hektische Stadt gejagt, jetzt folgt Oberinspektor Chen weitaus gefährlicheren Tieren: „Roten Ratten“, korrupten und skrupellosen Parteikadern, die mit Gangstern gemeinsame Sache machen.

Wieder ein aktuelles Thema, das Qiu Xiaolong im vierten Buch der Chen-Reihe aufgreift. Chen, Polizist und zugleich Dichter, aufstrebender Parteikader und doch „westlichen Werten“ mehr verbunden als den Oberen lieb sein kann, erhält den Auftrag, gegen die Korruption vorzugehen. Zentrale Figur ist ein „Neokapitalist“, der sich längst in die USA abgesetzt hat, doch noch immer die Fäden zieht. Chens Vorgänger ist ermordet worden, einer Studienkollegin, die in den Fall verwickelt ist, ergeht es nicht besser. Auch Chens Mutter gerät in Gefahr. Die Mauer des Schweigens scheint undurchdringlich, der Feind allgegenwärtig, übermächtig und nicht fassbar.

Völlig überraschend wird Chen zum Leiter einer Schriftstellerdelegation ernannt, die in offizieller Freundschaftsmission in die USA reisen soll. Will man den Oberinspektor kaltstellen – oder ihm Gelegenheit geben, jenen „Neokapitalisten“ vor Ort unter die Lupe nehmen zu können?

In St. Louis, wo die chinesischen Schriftsteller schließlich landen, macht Chen nicht nur die Bekanntschaft des Obergangsters. Er trifft auch seine amerikanische Kollegin Catherine Rohn wieder, zu der er sich seit einem gemeinsamen früheren Fall menschlich hingezogen fühlt. Dann geschieht ein dritter Mord.

Es ist, so der Originaltitel, „A Case of Two Cities“. Während Chen in St. Louis Fallen stellt und längst selbst in einer sitzt, ermittelt sein Gehilfe Hauptwachtmeister Yu in Shanghai. Dass dieser Originaltitel einen Charles-Dickens-Klassiker aus dem Jahr 1859 zitiert („A Tale of Two Cities“), ist natürlich weder Zufall noch bloße Spielerei. Xiaolongs Shanghai befindet sich wie Dickens’ England im Stadium des Frühkapitalismus, alles ist in Fluß geraten, die Werte werten sich um, eine Revolution findet statt (auch Dickens’ Roman spielt während einer Revolution, der französischen) und ist doch nur Vorstufe einer anderen, letztlich größeren.

Fast logisch, dass „Rote Ratten“ nicht mit krimiüblichen Happyends aufwarten kann. Man arrangiert sich irgendwie, auch privates Glück ist Chen nicht vergönnt. Xiaolong hat sich mit ihm einen Protagonisten geschaffen, in dem sich die Widersprüche des modernen China begegnen, Parteigehorsam und aus der Betrachtung des wirklichen Lebens erwachsendes Misstrauen gegenüber der Staatsgewalt, die Plastikwelt der Karaokebars trifft klassische Zeilen der chinesischen Dichtkunst, traditionelle Wohnviertel stehen protzigen Wolkenkratzern gegenüber. Ein insgesamt dichtes, gerade in seiner Unkomponiertheit stimmiges Bild einer aus den Fugen geratenen Welt. Und ein spannender Kriminalroman dazu, nach Genreregeln gebaut, die letztlich vor der schmutzigen Wirklichkeit kapitulieren müssen.

Noch einmal Dickens, der „A Tale of Two Cities“ mit einem klassisch gewordenen Satz eröffnet, der diesen Zustand der Verwirrung im heutigen China, das Obsoletwerden alter Werte und das Fehlen von neuen auf den Punkt bringt:

„It was the best of times, it was the worst of times, it was the age of wisdom, it was the age of foolishness, it was the epoch of belief, it was the epoch of incredulity, it was the season of Light, it was the season of Darkness, it was the spring of hope, it was the winter of despair, we had everything before us, we had nothing before us, we were all going direct to Heaven, we were all going direct the other way.”

Qiu Xiaolong: Rote Ratten. Zsolnay 2007 
(Original: „A Case of Two Cities“, 2006, deutsch von Susanne Hornfeck).
381 Seiten. 23,50 €

3 Gedanken zu „Qiu Xiaolong: Rote Ratten“

  1. müsste es nicht directly to heaven (und heaven klein) und directly the other way heißen?

    sehr schönes zitat!

    *liebt englisch
    **interessiert sich für feng shui (die lehre vom platzhaben)

  2. nein, verehrte Anoballa: nicht ‚wir gehen auf eine bestimmte Art und Weise‘ (going directly), sondern wir gehen ‚geradewegs in den Himmel‘.

    Beste Grüße!

  3. Bei dieser Gelegenheit sei natürlich die Dickens-Lektüre wärmstens empfohlen, nicht nur immer Oliver Twist und Weihnachtsgeschichte, auch und vor allem Bleakhouse, ja, die Pickwickier zum LeserInnen-Ergetzen auch.

    bye
    dpr

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