Zugespitzt und abgestumpft

Den Einbruch der Wirklichkeit in den Kriminalroman nahmen wir wohlwollend und erleichtert zur Kenntnis. Allwissende Ermittler in einem gesellschaftlich aseptischen Umfeld, die Polizei mal unfähig mal treudoof, meistens beides, die Welt ein leicht oder schwer in Unordnung geratenes Rätselpflaster, das man mit dem Besen des Rechts sauberfegte Der Realiendreck untern Krimiteppich gekehrt. So ist’s halt nicht; und selbst die überzeugtesten Eskapisten hatten es irgendwann einmal satt, angenehm durchs abgebrannte Maikäferland kutschiert zu werden. Aber: Inzwischen nervt sie nur noch, die angebliche Wirklichkeit.

Es bleibt ein Phänomen: Was einstmals als Affront gegen Heile-Welt-Gesülze und akrobatisch-gekünstelte Kopfarbeit begann, ist heute state of the art selbst dort, wo Krimis noch als schaurig-schöne Fluchtburgen herhalten müssen. Längst erwartet man nicht nur vom Schwedenkrimi, dass er uns die Polizei als durch die Bank rassistisch, korrupt und frauenfeindlich schildert, seine Protagonisten serienmäßig mit diversen Traumata ausstattet, Politik und Wirtschaft als bodenlose Sümpfe bebildert oder überhaupt die Leichen im Keller der „Honoratioren“ einer zynischen Gesellschaft zählt.

Die Zuspitzung ist allerorten längst zur Abstumpfung mutiert. Nicht mehr der Mord an sich gilt als „brutal“, erst das Zerstückeln der Leichen im mindestens Halbdutzend vermag zu erschrecken. Nur dass eben ein Schrecken, auf den man wartet, den man geradezu fordert, recht eigentlich keiner ist. Doch auch was „die Wirklichkeit“ angeht, sind wir abgestumpft. Sie wurde über die Jahre fein katalogisiert, baukastenfertig gemacht und lässt sich quasi auf Zuruf von jedem geistig unterernährten Autor effektvoll als Trumpfkarte im Spiel „wirklichkeitsnaher Kriminalroman“ aus dem Ärmel ziehen. Das hier neulich besprochene Buch von Stieg Larsson, „Verdammnis“, fällt dabei nur deshalb auf, weil es aus dieser Versatzstückhaftigkeit ebenso wenig einen Hehl macht wie aus der offenkundigen Lethargie, mit der man solche Hanebüchigkeiten schluckt und ihnen auch noch applaudiert. Selbst Peter Temples „Kalter August“, obwohl moderater, lässt keinen Zweifel daran, wie – ja, nennen wir es ruhig modeworten: kontraproduktiv inzwischen dieses Aufzeigen der finstren gesellschaftlichen Realien gerät. Rassistische Bullen als dekoratives Sahnehäubchen.

Kontraproduktiv also. Will sagen: Nicht nur, dass es natürlich völliger Blödsinn ist, die Polizei als generell korrupt und rassistisch zu brandmarken. Schlimmer erscheint mir, wie hier ein allgegenwärtiges und wahrlich trauriges Thema allmählich zum mundgerecht zugeschnittenen, ganz und gar kantenfreien SUJET zurechtgefummelt wird. Denn in der wirklichen Wirklichkeit ist die Fratze des Rassismus eben in der Regel KEINE Fratze, sondern eine ziemlich alltägliche, nicht selten lächelnde Visage. Auch das Überzeichnen kann verharmlosen.

Ein Mittel gegen diese nur noch auf Spektakel lauernde Verzeichnung der Wirklichkeit haben bereits Sjöwall und Wahlöö, mit die Stammeltern des „Trends“, angedeutet: das abermalige Überzeichnen des Überzeichneten ins Groteske. Die letzten Martin-Beck-Romane, in denen die Polizei weiterhin vom Faschismus träumt und diesen Traum auch wahrmachen möchte, sind auf eine sehr brutale und dabei doch filigrane Weise komisch. So komisch, dass wir den nüchternen Alltag dahinter erahnen. Gleiches gilt natürlich auch für Wambough, Charyn und andere, doch um die soll es hier gar nicht gehen. Sondern um die Lieblosigkeit, mit der man für längst in ihrer eigenen Stupidität garende LeserInnen die immer bedrohlichere Wirklichkeit zum beifälligen Abnicken verhackstückt, zu gegen Eintrittsgeld in der Jahrmarktsbude „Krimi“ gefahrlos zu bestaunenden Missgeburten . Folgenlos, das sei nicht verschwiegen. Denn was kümmert mich Rassismus, wenn ich durch die Straßen gehe und keine Fratzen in Uniform antreffe? Dann wird Wirklichkeit zur inszenierten Wirklichkeit – was sie eh immer ist, aber hier halt nur zum Zwecke der Täuschung, zur starkgebärdigen Schocktherapie, auf dass ich verunsichertes Leserlein mir hinterher sagen kann: Ja, so schrecklich ist die Welt – aber vergessen wir sie bis zum nächsten Krimi.

Auch in den angeknacksten Psychen des ermittelnden Personals – gibt es überhaupt noch „normale“ Schnüffler? – entlarvt sich die Grobmotorik des schlagzeilenden Erzählens. Da lauern „Dämonen aus der Vergangenheit“, hängt das Töchterlein genregerecht an der Nadel, watet der Held grüblerisch knietief durch plattesten Existentialismus – als ob die Realität nur unter Fanfarenstößen zu beschreiben wäre und „ein Problem“ gleich ins Wolkenkraterhafte zu wachsen hat, damit es die offenbar sehr verschrammten Rezeptoren der Leserschaft überhaupt noch als „ein Problem“ wahrnehmen.

Was man dagegen zu setzen hat, ist simpel: die Kraft der Literatur. Eine Kraft, die sich vor allem dann entfaltet, wenn sie mit Genauigkeit zu Werke geht. Genauigkeit beim Beobachten, Genauigkeit beim Formulieren, Genauigkeit in der dramaturgischen Darreichung. An die Stelle des fast schon zirzensisch mit seinen Dämonen kämpfenden Ermittlers, des seinen Rassismus wie einen Dienstgrad umhertragenden Polizisten, des diabolisch fädenziehenden hochhonorigen Scheusals aus Wirtschaft und Politik tritt der Alltagsmensch. Er ist nicht weniger traumatisiert, nicht weniger mit Vorurteilen behaftet, nicht weniger Überleichengänger. Aber zugleich ist er ein Spiegel, in dem ich meine Wirklichkeit erkennen kann – und, wenn ich Pech habe, mich selbst.

Also, AutorInnen: Stellt eure Wirklichkeitsbaukästen in die hinterste Ecke des Werkzeugkellers und wagt euch zurück in die Welt.

(Hinweis: Über einige erstaunliche Korrespondenzen von -schlechtem- Krimi und Wirklichkeit informiert auch die neue Krimizeitschrift makro scoop, die man →hier abonnieren und wohl Ende Mai / Anfang Juni in Händen halten kann.)

18 Gedanken zu „Zugespitzt und abgestumpft“

  1. Sie verwirren mich, lieber dpr! Ich hatte uns wenigstens darin einig gesehen, daß jeder von uns ‚die Welt‘, in der er sich orientieren muß, aus Medienbaukästen zusammensetzt, aus je eigenen zwar, aber mit vielfach gleichen Inhalten. Würde sich dann Ihre Aufforderung nicht darauf reduzieren, statt „NAVY Cis“ zu gucken, endlich „Süddeutsche“ und meinetwegen Wambaugh zu lesen?

    Wie gesagt: ich bin verwirrt und grüße entsprechend!

  2. Keineswegs, mein lieber JL (dass es mich freut, Sie verwirrt zu haben, brauche ich kaum eigens zu betonen). Aus Medienbaukästen, klar doch. Aber müssen es immer die billigsten sein? Die mit den kleinen Scheibchen drin, die man sich auf die Augen legt? Ob nun SZ (wie kommen Sie denn auf die?) oder Wambough: Wenn schon Baukasten, dann aber einer, mit dessen Materialien ich erst mal wenig oder gar nichts oder etwas völlig Überraschendes anfangen kann. Die mich also – verwirren (so gesehen freut es mich natürlich doppelt, SIE verwirrt zu haben). Was uns aber seit nun schon geraumer Zeit so an schiefen Türmchen vor die Nase gesetzt wird und sich „Welt“ schimpft, es ist einfach lächerlich und peinlich und nervig. Dann vielleicht doch mal einen Blick in die SZ. Wambough sowieso.

    bye
    dpr

  3. Nachtrag: Wie der Zufall so will, hat Kollege Wörtche gerade in seiner neuen Freitag-Kolumne den guten Stuart MacBride hoch gelobt. „Begnadeter Eklektiker“ nennt er ihn (dass ich immer „Elektriker“ lese, verwirrt mich keineswegs; passt hier nämlich). Ich erinnere mich an meine Rezension eines MacBride-Titels („Die dunklen Wasser von Aberdeen“), in dem ich mich über das allzu ausgiebige Baukasteln des Autors beschwere, ihm aber auch gehörige Cleverness dabei attestiere (hab ich jedenfalls noch so im Ohr; aber keine Lust, das jetzt noch mal nachzulesen). Interessant ist nun, dass der Kollege TW das durchaus ähnlich sieht, aber zu einem wesentlich positiverem Gesamturteil kommt, was die „Weltabbildung“ angeht. Da wird aus Bildzeitung SZ, bei mir reichts vielleicht gerade mal zum Bargfelder Boten… ach ja, →hier kann mans bei TW nachlesen. Ich bleibe gedanklich dran.

    bye
    dpr

  4. ja, lieber dpr, ich bin ein bescheidener Stuben- (resp. Balkon-)Hocker, der die Welt nur aus den Büchern kennt. Schon als ich zum ersten Mal eine ‚Einführung in die Kriminologie‘ las, ist es mir nicht gelungen, die Realitäten vom Fiktiven zu unterscheiden — und bis heute ist das, trotz heißestem Bemühen, nicht viel besser geworden. Herr Wörtche verfügt diesbezüglich über ein Arkanwissen, um das ich ihn beneide bis zum Grünwerden. (Seine gelegentlichen Sachbuchhinweise in Sachen OK halte ich eher für Ablenkungsmanöver.)

    Mit resignierten Grüssen!

  5. dabei fällt mir ein: den Bargfelder Boten hab‘ ich schon über Gebühr lange nicht mehr erhalten. Sollte die Buchhändlerin ihre Drohung wahr gemacht und mein Abo eigenhändig gekündigt haben, nur weil ich in den letzten Jahren nur selten dazu gekommen bin, die Hefte persönlich abzuholen und zu bezahlen? Und was wäre dann in diesem Fall ein Zeichen für moralische Verwahrlosung: meine Nachlässigkeit oder ihre schwarze Kundenpädagogik?

    Rätsel über Rätsel!

  6. [ARKANWISSEN: Wissen, das zur Herrschaftserhaltung eingesetzt wird, vulgo: Herrschaftswissen; wir sind hier ein volkstümlicher Krimiblog!]
    Na, woher kennt man die Welt sonst, bester JL? Machen wir doch aus allem was wir sehen und hören gleich „Geschichten“, also das, was in Büchern steht, und so wird halt die Wirklichkeit am Ende auch nur ein Roman – oder eine ganze Bibliothek. Dem Herrn W. geht das nicht anders.
    [OK = Organisierte Kriminalität]
    [Bargfelder Bote = Postille aus der ländlichen Südhaide unweit von Celle; Buchhändlerin = Frau, die Drucksachen vertickt]
    Ja, mit dem BB kann ich Ihnen nun auch nicht helfen, da wäre ein Studium „Zahlungsmoral im Wandel der Zeiten“ vielleicht mal ganz angebracht…

    *übrigens ist mir gerade wieder eingefallen, warum ich seit heute morgen schmerzende Daumen habe…geht hier aber keinen was an

    bye
    dpr

  7. „Dann wird Wirklichkeit zur inszenierten Wirklichkeit“ …
    Da möchte ich ergänzen: zur Visitenkarte des Autors. Stellen wir uns so einen Grundgütigen vor, der die, ups, „soziale Ungerechtigkeit“ (jetzt kommt ein ganz schlimmes Wort) „anprangern“ möchte. Der schreibt einen Krimi! Er schreibt ihn so, dass jeder merken soll, er ist aber ganz arg gegen soziale Ungerechtigkeit und möchte sie anpangern. So richtig vom Schreibtisch aus, ganz doll.
    Da sind die kreuzautoritären Knochen wie Spillane richtig angenehm dagegen, oder?

  8. Es sind Visitenkarten, die man uns nicht beiläufig zusteckt, sondern mit Pomp aufdrängt, genau, liebe Astrid. Das Furchtbarste an dieser Literatur ist ja nicht einmal, dass sie ihre „richtige Gesinnung“ wohlfeil an die Leser bringt, sondern die erschütternde sprachliche Plumpheit, mit der dies geschieht. Visitenkarten im Din A 2 – Format, damit bloß jeder lesen kann, was draufsteht.

    bye
    dpr

  9. Spillane lese ich als ganz bewußte und selbstbewußte und reflektierte ‚Inszenierung von Wirklichkeit‘ — Literatur eben, die sich einen Scheiß um die ‚Wirklichkeit der Kriminalität‘ schert. Hab‘ ich schon wieder mißverstanden?

    Grüße!

  10. Nö. Kann man so lesen. Wobei es ja nicht nur auf die Inszenierung des Autors ankommt, sondern auch auf die des Lesers. Aber jetzt wirds zu kompliziert für einen Freitagabend. Greif ich halt zu „Geheimagent Marlowe“ vom sehr geschätzten Dieter Kühn. Der Bursch sollte wenigstens schreiben können. Ob einen guten Krimi, wird sich zeigen…

    bye
    dpr

  11. Wäre der Neid nicht ein gutes Thema?
    Von wegen Totschlagargument in
    politischen/gesellschaftlichen Debatten?Gibt es Krimis, die sich explizit damit beschäftigen?

  12. Du meinst die berühmte Neiddebatte? Die besagt, es sei „typisch deutsch“ (aha!), anderen keinen Erfolg zu gönnen? Ob nun dazu explizit Krimis gibt, weiß ich nicht. Kanns mir nicht vorstellen. Aber vielleicht verfügt ja hier jemand hier über mehr Arkanwissen als ich und ist also nicht grün vor Neid…

    bye
    dpr

  13. Ich meine der Begriff „Neid“ müßte aufgedröselt werden um z.B. den Mißbrauch in dieser Debatte zu beenden.Die Definitionen, die man in Lexika findet sind unzureichend.Neid ist immer negativ belegt.Dabei hat doch z.B. Gerechtigkeit oder Konkurrenz was mit Neid zu tun.Dieses Aufzwirbeln/Aufklären wäre doch was für Schriftsteller.

  14. ich hab‘ dieser Tage (neiderfüllt, was denn sonst) zwei Dachdeckern zusehen können, die mit schönster Eleganz und Sicherheit das Dach des Hauses vis à vis begangen haben. Ich empfehle also Otto Ludwigs „Zwischen Himmel und Erde“ (a: geht es da um Neid und b: um Mord — qualifiziert also).

    Grüße!

  15. Ich könnte mir vorstellen, lieber Johannes, dass diese ganzen Strategien, von den wirklichen Problemen abzulenken (und die „Neiddebatte“ ist eine solche Strategie), durchaus Gegenstand von Kriminalliteratur sein könnten. Indem man sie einfach beschreibt. Hinschauen und aufschreiben. Eigentlich gar nicht so schwer.

    bye
    dpr

  16. Sehen Sie, lieber JL, das unterscheidet uns: Ich empfinde niemals Neid auf Menschen, die etwas können, was ich definitiv nicht kann. Z.B. Dächer begehen. Mir wird schon ganz blümerant, wenn ich auf die zweite Stufe der Haushaltsleiter steige, um eine Glühbirne auszuwechseln. Neidisch bin ich durchaus auf Menschen, die etwas können, was ich auch kann, aber die es besser können. Das ist, Johannes hat es angedeutet, durchaus positiv besetzter Neid, weil er mich motiviert.

    bye
    dpr

  17. da müßte ich Sie, lieber dpr, jetzt also beneiden, weil Sie selbst beim Neiden besser sind als ich. Aber woher wissen Sie denn, daß ich nicht, wenngleich ungelenk, meine freien Stunden auf den Dächern der Nachbarschaft verbringe, um mir die richtige Eleganz bei der Benutzung meiner Bibliotheksleitern anzutrainieren? Ha!

  18. Und ich beneide Sie, weil Sie so etwas viel besser zugeben als ich. Und für meine Bibliothek brauche ich weniger Leitern als ein elektronisches Durchs-Chaos-Dring-System.

    bye
    dpr

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