Wer Dieter Kühns Biografien kennt, den wird das Motto, das er seiner neuesten voranstellt, nicht schockieren. Ein Zitat von Johannes Bobrowski ist es: „Wir häufen hier eine historische Unwahrheit auf die andere, um ein zutreffendes Bild zu bekommen.“ Wohlan. Das hat Dieter Kühn schon immer so gehalten, von Oswald von Wolkenstein bis Maria Sybilla Merian oder Clara Schumann. Die sogenannte ernsthafte Wissenschaft meldete nicht selten ächzend ihre Bedenken an, aber am Ende hat Kühn Bobrowskis Credo immer glänzend bestätigt. So auch diesmal mit „Geheimagent Marlowe“.
Das Leben des englischen Dramatikers Christopher Marlowe (1564-1593) war ein Krimi, sein Tod genregerecht. Gerade einmal 29jährig, wurde er bei einer Wirtshausstreitigkeit erstochen, Jahre zuvor hatte man ihn selbst einer ähnlichen Tat beschuldigt. Mit ihr beginnt Kühns Roman. Marlowe, der Hitzkopf windet sich im Polizeiverhör, seine Chancen stehen schlecht. Hinrichtung oder lebenslanges Dahinvegetieren in den nicht gerade komfortablen Kerkern Ihrer Majestät Elisabeth I, die mit der Liquidierung der schottischen Konkurrentin Maria Stuart einen Karriersprung gemacht hat, also nicht zimperlich ist.
Doch die Rettung ist nahe, der Geheimdienst bietet Marlowe an, in Paris zu spionieren. Die Beziehungen zu Frankreich sind denkbar schlecht. Wohl hat man die spanische Armada vernichtend geschlagen, doch deren gallische Verbündete scheinen aufzurüsten. Stichwort Bartholomäusnacht, als 30.000 Hugenotten hingeschlachtet wurden, noch immer ein Trauma. Das katholische Frankreich gegen das protestantische England, Religion gegen Religion. Mit der Legende eines irischen Studenten, der in Paris Festungsbau studieren will, schickt man Marlowe in die französische Metropole. Das geht nicht lange gut. Marlowe, trink- und spielfreudig, rauflustig und auch noch homosexuell, wird enttarnt, der französische Geheimdienst presst ihn zum Doppelagententum, was den englischen Kollegen nicht verborgen bleibt. Sie beordern Marlowe zurück, verhören ihn, willigen scheinbar ein, ihn außer Landes zu bringen, wo er sich an ruhigem Ort ganz seiner dramatischen Kunst widmen kann, doch eine Intrige im Hintergrund macht den idyllischen Lebensentwurf des Dichters zunichte. Marlowe muss sterben, Marlowe stirbt. Oder auch nicht. Zweifel bleiben.
Vieles an Kühns Geschichte entspricht der „Wahrheit“, wie man sie aus den spärlichen Fakten, die von Marlowes Leben geblieben sind, herausdestillieren kann. Er arbeitete wohl schon als Student für den Geheimdienst und man vermutet, er habe es auch später noch getan. Die Umstände seiner Ermordung sind mysteriös, der offizielle Tathergang mit Fragezeichen versehen, zumal Marlowe zu dieser Zeit tatsächlich in politischer Bedrängnis war, wartete doch eine Anklage wegen Atheismus, Homosexualität und anderer Schwerverbrechen auf ihn. Ein politischer Mord also? Ein gefundenes Fressen für KrimiautorInnen auf jeden Fall, wie Leslie Silberts „Der Marlowe-Code“ von 2004 beweist. Marlowes Tod nur vorgetäuscht, hat als Shakespeare weitergeschrieben…nein, da ist Kühn schon ein ganz anderes Kaliber.
Kühn schildert die letzten Monate des Dichters in Verhörprotokollen, Briefen, Berichten. Der „Roman eines Mordes“, so der Untertitel, wird zum Roman der Geheimdienste, deren Strukturen und Automatismen Kühn in nicht selten witziger Stilistik und genau damit sehr klar und einleuchtend schildert. Dies wäre, neben der biografischen, die zweite Ebene des Buches, das ewige Funktionieren von geheimen Organisationen mit ihren Hierarchien und Ränkespielen. Aber es gibt noch mehr.
Seit Carré ahnen wir, dass wirklich gute Spionageromane immer auch ein Abbild der Normalwelt liefern, die Umrisse der Geheimdienste zugleich Umrisse des öffentlichen Lebens sind. Der einzelne ist Spielball, Manövriermasse, das Spiel selbst hat sich längst eigendynamisch verselbstständigt. Kühn setzt nun Marlowe, den Künstler und, wohl doch, „Atheisten“ in den Käfig der Gesellschaft, die ihn umgibt, bedroht, umwirbt, letztlich zwischen den Fronten Katholizismus und Protestantismus, sprich Ideologien verheizt. Marlowe ist erpressbar, Homosexualität ein Verbrechen, jede Meinungsäußerung, die den Herrschenden nicht genehm ist, kann ebenfalls sanktioniert werden. So wird Marlowe, der doch nur eines will, nämlich Dramen schreiben, zur tragischen Figur in seinem Lebensdrama. Er passt einfach nicht in diese Welt mit ihren lächerlichen Händeln, und diese Welt kümmert sich einen Dreck um den Dichter. Sie gebraucht ihn, sie missbraucht ihn, sie wirft ihn weg, wenn sie seiner überdrüssig geworden ist.
Das ist zeitlos, aber auch aktuell. Wir erinnern uns an die Stasiaktivitäten mancher DDR-Literaten, wir erinnern uns generell an Menschen des Geistes, die in die Mühlen der Wirklichkeit geworfen und dabei beschädigt wurden. Der Mord, der hier geschieht, ist auch ein metaphorischer, die Ebenen sind ineinander geschachtelt, Marlowes Biografie eine Künstlerbiografie, das Spezielle des Geheimdienstunwesens das Allgemeine einer „funktionierenden Gesellschaft“, der die Kunst, pardon, am Arsch vorbeigeht und erst dann wichtig wird, wenn es den eigenen Kulturstand als eine historische Leistung abzufeiern gilt und man entsprechende Belegstücke braucht. Dann sind die Künstler meistens schon tot, und auf ihre erbärmlichen Leben schaue man besser nicht so genau, während die Weihrauchkessel geschwenkt werden.
„Geheimagent Marlowe“ ist nicht „mehr“ als ein Kriminalroman oder gar „zu literarisch“. Es ist ein wunderbarer Kriminalroman von einem, der seine Sprache fast beängstigend souverän im Griff hat und damit, ganz nebenbei, auch zeigt, was Kriminalromane sein können, wenn ihre UrheberInnen des Schreibens mächtig sind.
Dieter Kühn: Geheimagent Marlowe. Roman eines Mordes.
S. Fischer 2007. 263 Seiten. 18,90 €