Breslau 1919. Aha: wieder ein historischer Krimi. Das Trauma des Ersten Weltkriegs, Revolution, Freikorps, Barrikaden, Verelendung der Massen – und am Horizont winkt schon der Gefreite mit dem Chaplin-Bärtchen. Typische Fleißarbeit, denkt man. Da hat jemand ein paar Geschichtsbücher exzerpiert und strickt nun „Krimi“ drumrum. Falsch. Marek Krajewski arbeitet anders. Und viel besser.
Vier nackte Männer mit Matrosenmützen: bestialisch getötet, die gebrochenen Glieder grotesk ineinander verrenkt. Daneben ein Brief: Eberhard Mock solle eingestehen, dass er einen Fehler gemacht hat. Sonst gehe das Morden weiter.
Eberhard Mock ist Kriminalassistent bei der „Sitte“ der Breslauer Polizei. Jetzt zur Mordkommission abkommandiert und gleich sehr direkt in den Fall verwickelt. Was soll er gestehen? Er weiß es nicht. Und der Täter hält sein Versprechen, er mordet weiter. Wen Mock verhört, ist kurz darauf tot.
Dass Mock Fehler macht, bleibt dem Leser nicht verborgen. Er ist ständig alkoholisiert, hurt sich durch die Nächte, erpresst nebenbei und ist auch sonst das, was man einen umsympathischen Zeitgenossen nennt. Sein geheimer Gegenspieler aber ist schlicht schwer bescheuert. Wir lernen ihn in kurzen Tagebuchauszügen kennen, wo er sich in philosophische Wahnwelten zwischen griechischer Mythologie und falschverstandener Nietzschelektüre versteigt.
Schön soweit; ein fieser Ermittler, ein wahnsinniger „Serienkiller“, das kennt man schon. Und das alles vor dem Hintergrund des noch deutschen Breslau, vorzüglich im Rotlichtmilieu, das aber übergangslos „die besseren Kreise“ mit einbezieht. Das historische setting hingetuscht, nicht journalistisch reportiert. Man ahnt die Verwerfungen der Zeit mehr als man sie in Fakten oder Reflexionen präsentiert bekommt. Krajewski hält sich nicht damit auf, er dringt zum Kern seiner Sache vor: der Befindlichkeit der Epoche.
Denn Mock, mag er auch ein Scheusal sein, ist eben nicht nur ein Scheusal. Er liebt, er kümmert sich, er sieht Gespenster – wirkliche, nachgemachte, phantasierte. Was er tut, ist nicht immer logisch, ist nicht selten überzogen – und doch passend. Auch der Täter, der kein Einzeltäter ist, sondern Mitglied einer „Loge“, ist eben nicht nur verrückt, sondern auch rational. So verschwimmen die Werte, und genau darin zeigt sich jene Epoche nach dem Ersten Weltkrieg in all ihrer Widersprüchlichkeit, ihrer Brisanz, ihrem Schwanken zwischen den Ideologien und sonstigen Wahnwitzigkeiten.
Das Ganze wird, je weiter wir dem Höhepunkt zusteuern, zunehmend surreal und erinnert durchaus an die Romane von Fred Vargas. Die Lösung der Frage etwa, was Mock denn nun als Fehler eingestehen soll, ist als Kern des Plots völlig lächerlich – wenn man es isoliert betrachtet. Im Kontext des „Zeitgeistes“ jedoch macht es Sinn.
„Gespenster in Breslau“ ist gewiss ein „psychologischer Roman“, aber eben auch und besonders ein „historischer“, der jenseits der üblichen und meist drögen Faktenhuberei den Seelenzustand einer Epoche aus dem Seelenzustand ihrer Akteure heraus erklärt. Nein, nicht einmal erklärt. Zeigt. Wobei mit allen verfügbaren konventionellen Spannungsmustern gearbeitet wird (obwohl geübte Leser den „Bösen“ recht schnell zu identifizieren vermögen), die aber doch zu jener Spannung führen, die sich Leserin und Leser als denkende und kombinierende Menschen selbst erzeugen müssen. Womit wir wieder bei Fred Vargas wären, auch wenn deren Baupläne andere sind. Im Kern ähneln sie einander doch. Schick deine Personen durch die Welt – und entdecke eine andere, damit du die Welt, durch die du dich bewegst, auch verstehst.
Marek Krajewski: Gespenster in Breslau.
Dtv 2007
(Original: „Widma w miescie Breslau“, 2005, deutsch von Paulina Schulz).
316 Seiten. 14,50 €